Mehr Europa wagen – Europäische Perspektiven jenseits der Eurokrise
Sehr geehrte Damen und Herren,
zunächst herzlichen Dank für die Einladung und die Gelegenheit, heute hier zu sprechen.
1 Mehr Europa wagen?
Der Titel meines heutigen Vortrags ist ein Plädoyer: Mehr Europa wagen. Vielleicht denken jetzt nicht wenige von Ihnen: Europa befindet sich seit geraumer Zeit in einer seiner schlimmsten Krisen, Ausgang ungewiss. Wieso ruft da jetzt jemand nach noch mehr Europa? Wie soll das funktionieren?
Ja, wir befinden uns in einer sehr ernsten Krise. Die globale Finanzkrise stellt die gesamte europäische Integration auf den Prüfstand.
Es geht nicht nur um Griechenland. Es geht nicht um Italien oder Spanien. Es geht nicht um eine Währung.
Es geht um unser gemeinsames Europa.
Im Tauziehen um die Eurorettung sind gleich mehrere Schwächen der Europäischen Union offenbar geworden:
1. Das Defizit einer Währungsunion ohne Wirtschaftsunion.
2. Die Schwäche der europäischen Institutionen und daraus folgend die politische Kakophonie und Handlungsunfähigkeit in der Krise
3. Der Irrglauben – vor allem der großen europäischen Staaten – diese Schwäche durch eine Stärkung der Zusammenarbeit von Regierungen überwinden zu können. In Wahrheit perpetuiert dies die Schwäche Europas.
2 Merkozy-Kurs abgewählt
Die Politik der schwarz-gelben Koalition in dieser Schuldenkrise der Banken und Staaten war und ist ökonomisch einseitig und im Ergebnis anti-europäisch.
Das Zögern und Zaudern dieser Bundesregierung, die Absage an notwendige Entscheidungen, die dann mit einigen Wochen Verzögerung doch als unvermeidbar beschlossen wurden, hat diese Krise verlängert, verschärft und verteuert.
Und sie hat antieuropäische Ressentiments befördert. Was mussten wir nicht alles ertragen… Vom Rauswurf Griechenlands aus der Eurozone bis zum Verkauf griechischer Inseln war alles an eurochauvinistischen und populistischen Vorschlägen dabei. Und sie kamen immer aus Koalitionskreisen.
Seit neustem läuft der wegen Rechtspopulismus gefeuerte Bundesbanker Thilo Sarrazin mit der These durch die Talkshows, wer für gemeinsame europäische Anleihen sei, täte dies nur aus einem nicht bewältigten Schuldkomplex wegen des Holocaust und des 2. Weltkriegs.
Dass der Weg von der Hetze gegen Kopftuchmädels und einer angeblich genetisch bedingten Intelligenz zum D-Mark-Chauvinismus kurz ist, überrascht nicht wirklich. Es ist aber auch eine wüste Polemik gegen das Europa Robert Schumanns, Jean Monets, Konrad Adenauers und nicht zuletzt das Europa Helmut Kohls.
Denn wer heute den Rückfall in nationale Währungen und in den Nationalstaat predigt und nicht mitdiskutiert, dass dieses gemeinsame Europa die Antwort auf Jahrzehnte von Kriegen zwischen Nationalstaaten war, der hat aus der Geschichte gar nichts gelernt.
Dabei ist die Wahrheit über die Eurobonds eine simple. Gänzlich ohne sie sind Europas Schulden schon lange vergemeinschaftet und immer ist Deutschland mit 27 % dabei. So hat die Europäische Zentralbank (EZB) Staatsanleihen aus Krisenländern für 214 Mrd. Euro aufgekauft.
Darüber hinaus hat die EZB den Markt mit 1 Billion Euro Liquidität geschwemmt und gleichzeitig die Sicherheitsanforderungen im Euro-System gesenkt. Das ist nicht nur risikoreich, sondern auch ein gutes Geschäft für private Banken und geht zu Lasten der Steuerzahler. Diese Banken wurden von der EZB mit billigem Geld geflutet – für einen
Zinssatz von 1 %. Im Gegenzug akzeptierte die EZB Staatsanleihen etwa aus Spanien und Italien als Sicherheit. Spanien aber zahlt aktuell für seine Staatsanleihen bis zu 6,5 %. Die Zinsdifferenz von bis zu 5,5 %verbleibt bei den privaten Banken.
Würde der Europäische Rettungsschirm diese Anleihen kaufen, bliebe die Zinsdifferenz bei uns Steuerzahlern – und die Zinsen für Spanien hätten nicht diese Höhe.
Gegen Schuldenzinsen dieser Höhe kann nicht mal eine Regierung des sozialen Kahlschlags wie die der spanischen Konservativen ansparen. Spaniens Bruttosozialprodukt sinkt. Die Steuereinnahmen brechen ein. Die Staatsschulden in Spanien werden mit der Sparpolitik größer und nicht kleiner.
In Spanien kann man beobachten, wie die Umsetzung von Merkels Sparpolitik die Krise verlängert und verschärft.
Ein einseitiges Spardiktat ist ökonomisch falsch und politisch gefährlich.
Dabei predigt Angela Merkel Wasser und trinkt selbst Wein. Zu Beginn ihrer Kanzlerschaft lag die deutsche Staatsverschuldung zwar über der von Spanien – aber mit 63 % vom Bruttosozialprodukt (Schuldenstandsquote 2007, 2005 lag sie bei 68%) fast auf den Maastricht-Kriterien.
Wie kam Deutschland durch die Finanzkrise 2008? Mit Schulden – aufgenommen für die Abwrackprämie, das Konjunkturprogramm, das Kurzarbeitergeld und die Bankenrettung. Das Ergebnis war: Deutschlands Schuldenquote stieg auf 71 % zu Beginn der zweiten Kanzlerschaft Merkels. Sie sank, trotz der guten Konjunktur, seitdem nicht. Im Gegenteil, sie wird im nächsten Jahr 84 % betragen. Für 2012 haben sich Merkel und Schäuble eine Verdoppelung der Neuverschuldung von 17 auf 34 Mrd. von Schwarz-Gelb genehmigen lassen.
Angela Merkel predigt der Welt Sparsamkeit und hat die deutschen Staatsschulden in den sieben Jahren ihrer Kanzlerschaft um ein Drittel – um 500 Mrd. hochgetrieben.
Was die Menschen in Europa von dieser Politik halten, konnte man kürzlich bei den Wahlen in Griechenland (und bei den Neuwahlen am 17. Juni wird das nicht anders sein) und in Frankreich sehen.
Mit der Abwahl von Nicolas Sarkozy wurde auch das Modell Merkozy abgewählt.
3 Falsche Diagnose – Falsche Therapie
Das entscheidende Problem ist Merkels falsche Krisenanalyse. Angela Merkel reduziert die Krise auf eine Staatsschuldenkrise in den Peripherieländern, ausgelöst durch überbordenden Staatskonsum. Daran ist fast alles falsch.
Die Schuldenkrise beschränkt sich nicht auf Staaten, sie umfasst Banken und private Haushalte und sie ist längst in der Mitte Europas angekommen.
Zwei Kernursachen werden mit dem Gerede von der Staatsschuldenkrise leicht vergessen:
1. Anders als Deutschland waren Spanien und Irland lange haushaltspolitische Musterknaben – bis die enorme Verschuldung des Privatsektors in der Finanzkrise sozialisiert wurde. Die Verstaatlichung von Bankschulden, hervorgerufen auch durch eine Überschuldung privater Haushalte in den USA wie in Spanien hat die Staatsverschuldung überall in Europa massiv in die Höhe getrieben. Die Staatsschuldenkrise ist nicht zu verstehen ohne die globale Finanzmarktkrise.
2. Hinzu kommt ein systematisches Problem innerhalb der Eurozone – die wirtschaftlichen Ungleichgewichte. Auf Dauer kann es nicht gut gehen, wenn innerhalb einer Währungsunion die einen permanent Überschüsse und die anderen ebenso permanent Leistungsbilanzdefizite produzieren. Anders gesagt: Eine Exportstrategie, die sich ihre Produkte auf Pump bezahlen lässt, ist nicht nachhaltig. Das ist eine Wahrheit, die Schwarz-Gelb nicht gerne hört.
Mit diesem fatalen Krisenmanagement wurde die Europaskepsis der Menschen geschürt. Das ist nur allzu verständlich, wenn der Eindruck entsteht, dass das Primat der Politik durch ein Diktat der Finanzmärkte ersetzt wird. Demokratische Politik muss das Heft des Handelns wieder in die Hand nehmen. Und sie muss den Menschen Europa näherbringen und dafür kämpfen, dass wir diese Errungenschaft Europa nicht
einfach verspielen.
3.1 Exkurs: Die Krise des demokratischen Kapitalismus
Diese Krise ist eben keine konjunkturelle Delle, nach der es einfach so weiter geht. Sie ist nicht auf Europa beschränkt. Sie treibt den Präsidenten der USA ebenso um wie wichtige Schwellenländer wie Brasilien, Indien, China, Russland oder Südafrika.
Tatsächlich werden wir Zeugen eines historischen Einschnitts des demokratischen Kapitalismus, wie der Sozialwissenschaftler Wolfgang Streeck unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem definiert.[1]
Dieses Modell aus Marktwirtschaft und Demokratie war seit dem 2. Weltkrieg überaus erfolgreich und hat sich im Systemkonflikt mit dem Osten globalisiert – nicht nur im Westen, sondern auch in vielen Schwellenländern wie Brasilien oder Südkorea.
Der lange Erfolg dieses Modells beruhte darauf, dass es zwei Prinzipien temporär miteinander versöhnte, das ökonomische Prinzip der Gewinnmaximierung und die demokratisch eingeforderte Teilhabe an Wohlstand.
Dieses Modell geriet schon vor Jahrzehnten in eine Krise, als die Wachstumsraten der Nachkriegszeit nicht mehr erreicht wurden. Anders gesagt: Mit gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten von 2 % sind dauerhaft Renditen von 15 % nur zu erzielen, wenn andere Verluste in dieser Höhe erleiden.
Da der Konflikt nicht zu lösen war, musste ein Ausweg gefunden werden. Der Ausweg der 70er Jahre war Inflation, der 80er Jahre zunehmende Staatsverschuldung, der Ausweg der 90er private Verschuldung – also Teilhabe auf Pump zu Lasten kommender Generationen. „Inflation, Haushaltsdefizite und Unter-Regulierung der Finanzmärkte waren im Kern nicht Folgen fehlerhafter Wirtschaftspolitik, sondern dienten der zeitweiligen Zufriedenstellung demokratisch-politischer Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit, die mit wirtschaftlichen Forderungen nach Profitabilität und Verteilung nach Maßgabe marginaler Produktivität unvereinbar waren.“ (Streeck)
Nachdem der „Privat-Keynesianismus“ eines Alan Greenspan in der Lehman-Pleite pulverisiert wurde, waren die Staaten gezwungen, große Teile der aufgelaufenen Verschuldung zu verstaatlichen.
Hinzu kommt aber ein Weiteres:
Die Globalisierung hat das Kräfteverhältnis zwischen Politik und Markt, zwischen Demokratie und Kapitalismus, zulasten der Demokratie verschoben.
Noch einmal Wolfgang Streeck: „In dem Maße, wie die Auseinandersetzung sich vom Arbeitsmarkt und den Arbeitsbeziehungen auf die öffentliche Haushaltspolitik, anschließend auf die Politik der Regulierung des Finanzsektors und von da auf die internationale Geldpolitik verlagerte, wurde der demokratisch-kapitalistische Verteilungskonflikt zunehmend gegen demokratischen Druck von unten isoliert.“
Es geht also nicht nur um das Rezept zur Behebung einer Wirtschafts- und Finanzkrise. Es geht auch darum, das demokratische Prinzip zu stärken, es geht darum, politische Handlungsfähigkeit, politische Souveränität wieder zu gewinnen.
Nur ein gestärktes Europa kann in globalisierten Märkten Standards setzen – von der Chemie- über Handels- bis hin zur Bankenregulierung. Europa war in vielen Fragen Vorreiter – etwa in der Klimapolitik, in der Energiepolitik und hat so neuen Technologien und neuen Instrumenten zum Durchbruch verholfen.
Unter den Bedingungen der Globalisierung gibt es mehr politische Souveränität nur mit einem stärkeren Europa, demokratisch legitimiert und mit starken europäischen Institutionen.
4 Die Gefahr der Krisenspirale
Besonders in den letzten Tagen wird in den Medien wieder viel über eine bevorstehende Staatspleite Griechenlands oder den Austritt aus der Eurozone spekuliert. Ein Zerfall der Eurozone wäre aber katastrophal auch und gerade für Deutschland.
Was würde passieren, wenn Griechenland zahlungsunfähig oder gar aus der Euro-Zone austreten würde? Das Szenario wäre doch folgendes:
Auch andere finanzschwache Länder würden unter starken Druck geraten, die
Risikoaufschläge für ihre Staatsanleihen würden noch einmal drastisch steigen, auch diese Länder wären dann womöglich von der Zahlungsunfähigkeit bedroht. Der gesamte Währungsraum käme ins Wanken. Unsere Exporte würden sich drastisch verteuern.
Schon heute hat der deutsche Maschinenbau dramatische Nachfrageeinbrüche in Europa, die nur unvollständig auf anderen Märkten kompensiert werden können.
Besonders die Situation in Spanien ist alarmierend. Bei allen Sorgen um Griechenland sollte man den Fokus dringend auf dieses Land richten. Denn ein Blick auf die Zahlen zeigt, in welch schwieriger Lage die viertgrößte Volkswirtschaft Europas ist.
Fast jeder großen Finanzkrise sind extreme gesellschaftliche Verschuldungen vorangegangen – auch der Lehmannpleite 2008. Spanien hatte 2007 eine Schuldenstandsquote von 36% des BIP, heute liegt sie bei 69% (deutlicher unter der deutschen).
Die private Verschuldung in Spanien beträgt 89 % des Bruttosozialprodukts, Hypothekenkredite im Wohnungsbau machen 75 % der gesamten Finanzdarlehen aus. Die Banken sind mit 109% des Bruttosozialprodukts verschuldet. Die Arbeitslosenquote liegt bei über 20 %, bei Jugendlichen sogar bei über 40 %!
Gegen eine solche Situation kann man nicht ansparen. Das Land braucht nachhaltiges Wachstum und Perspektiven vor allem für seine vielen jungen Leute.
Gelingt es nicht, Spanien zu stabilisieren und es vor Spekulationen zu schützen, wäre auch Frankreich in Not. Denn französische Banken wiederum halten spanische Anleihen in Höhe von 140 Milliarden, Deutschland sogar in Höhe von 180 Milliarden Euro.
Dieser unkontrollierbare Domino-Effekt ist brandgefährlich für die Zukunft der Europäischen Union.
Ach und wer glaubt, solche private Verschuldung sei nur ein Problem südlicher Peripherieländer, der schaue sich einmal die private Verschuldung in den Niederlanden an. Dort betragen allein die Hypothekenschulden mit über 600 Mrd. € mehr als 100% des Bruttosozialprodukts. Die Niederlande sind mit Deutschland einer der Nettozahler in Europa.
5 Einseitiger Fiskalpakt
Und trotzdem glaubt die Kanzlerin nach wie vor, ausschließlich durch Sparen käme ganz Europa aus der Krise. Der beschlossene Fiskalpakt, der 2013 in Kraft treten soll, spiegelt dieses Denken wider.
Wohlgemerkt: Eine verantwortungsvolle Haushaltspolitik in Europa und eine sozial gerechte Haushaltskonsolidierung sind absolut notwendig.
Angesichts der Überschuldung ganzer Gesellschaften ist eine Begrenzung der Neuverschuldung durch eine Schuldenbremse sinnvoll. Wir brauchen nicht nur eine Schuldenbremse für Staaten, sondern durch schärfere Eigenkapitalvorschriften auch für Banken.
In seiner jetzigen Form ist der Fiskalpakt nichts weiter als ein symbolischer Pakt. Er ist einseitig und fast alles, was darin steht, ist bereits im geltenden Recht der Europäischen Union verankert oder hätte dort verankert werden können.
Schon heute müssen Bund und Länder ihre Haushalte vor der Verabschiedung der EU-Kommission zur Prüfung vorlegen – und diese kann Änderungen verlangen. Und mühsam, sehr mühsam hat man sich jetzt auf schärfere Eigenkapitalvorschriften für Banken verständigt – und Deutschland war mal wieder der Bremser.
Aber dies alles muss in einer gesamtwirtschaftlichen Strategie eingebettet werden, die Investitionen und Entwicklung begünstigt. Neben Sparen braucht Europa wirtschaftliches Wachstum, bei sparsamerem Verbrauch von Energie und Rohstoffen.
Europa wird nur aus der Krise kommen, wenn die wirtschaftlichen Ungleichgewichte bekämpft werden – in den Defizitländern durch Hebung der Wettbewerbsfähigkeit, in den Überschussländern durch eine Stärkung der Binnennachfrage und das geht nur über höhere Löhne und einen gesetzlichen Mindestlohn.
Der einzige, der das im schwarz-gelben Kabinett erkannt hat, ist Bundesfinanzminister Wolfang Schäuble. Er ist auf den Kurs von IWF-Chefin Christine Lagarde eingeschwenkt und fordert nun
höhere Löhne in Deutschland.
Außerdem muss der Fiskalpakt dringend um eine nachhaltige Wachstumsstrategie und ein europäisches Investitionsprogramm ergänzt werden.
Es geht hierbei nicht um schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme. Wir brauchen Investitionen, die man auch ohne Kredite finanzieren kann. Und man kann sie mit einem Abbau von Schulden kombinieren, anstatt nur die neuen, zusätzlichen Schulden zu mindern.
Wir Grüne fordern deshalb, den Fiskalpakt um folgende Punkte zu ergänzen:
Zusätzliche Investitionen in Ressourceneffizienz, ökologische Modernisierung, moderne Infrastruktur und Bildung
Eine Aufstockung des Kapitals der Europäischen Investitionsbank und eine bessere Nutzung der europäischen Strukturfondsmittel, um diese Investitionen zu finanzieren
Eine Finanztransaktionssteuer, um Spielräume für wirtschaftliche Impulse zu erhalten und die Spekulation endlich einzudämmen.
Einen europäischen Schuldentilgungspakt – getragen von einer Vermögensabgabe –, um es den Ländern in Not zu erleichtern, ihre Haushalte zu konsolidieren. Ich verstehe bis heute nicht, warum die Kanzlerin diesen Vorschlag Ihres eigenen Sachverständigenrats völlig missachtet.
Die Einführung von Deutschlandbonds. Die Länder müssen in die Lage versetzt werden, die Lasten ihrer Schuldenbremse tragen zu können.
Umfassende Beteiligungsrechte von Bundestag und Bundesrat sowie
die regelmäßige Teilnahme des EP-Präsidenten an den Euro-Gipfeln
Diese Ansprüche stehen im Einklang mit den grün regierten Ländern. Und auf die ist die Bundesregierung angewiesen.
Angela Merkel hat weder für den Fiskalpakt eine Mehrheit – denn dazu müssen Zwei-Drittel von Bundestag und Bundesrat zustimmen. Das geht nicht ohne Grüne und ohne die SPD. Sie hat zudem in ihrem eigenen Reihen keine Mehrheit für den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM).
Seit zwei Monaten liegt das Verhandlungsangebot von uns auf dem Tisch des Kanzleramtes. Aber Frau Merkel hat ein weiteres Problem. Der Fiskalpakt macht keinen Sinn ohne Frankreich. Der neue französische Präsident Hollande fordert, das alles getan wird, um die Regulierung der Finanzmärkte voranzubringen und neue Wachstumsimpulse zu setzen, damit die Menschen in Europa wieder eine Zukunft haben.
6 Mehr Europa wagen!
Der Schlüssel zum Ausweg aus der Euro-Krise liegt in mehr Europa und in einer gemeinsamen europäischen Krisenstrategie. Das ist im deutschen Interesse.
Dafür braucht es einen visionären Vorreiter, der für ein handlungsfähiges und solidarisches Europa kämpft.
Zu Helmut Kohls Zeiten war Deutschland zweifelsohne dieser Vorreiter. Heute flieht die deutsche Kanzlerin in technokratische Halbfertigkeiten.
Im Wachstums- und Stabilitätspakt gelang es zwar gegen deutschen Widerstand, dauerhafte Leistungsbilanzüberschüsse als Störung des Binnenmarktes zu definieren – werden beschlossene Maßnahme zu ihrer Minderung nicht umgesetzt, soll dies aber – anders als bei Defiziten – nicht sanktioniert werden.
Im Fiskalpakt gibt es zwar Vorgaben in der Haushaltspolitik – eine Mindestharmonisierung der Einnahmeseite, also bei den direkten Steuern, ist aber nicht vorgesehen.
Und anstatt die Kommission zu stärken und das Europaparlament zu beteiligen, soll nun der Fiskalpakt, ein völkerrechtlicher Vertrag, das erreichen, was im Vollzug des Vertrages von Maastricht nicht gelang, obwohl doch alle wissen, dass dieser Fiskalpakt gegenüber dem Gemeinschaftsrecht nachrangig ist.
Und anstatt auf Mehrheitsentscheidungen in einem gemeinsame Europa unter Beteiligung des Parlaments zu setzen, werden mehr und mehr Entscheidungen in den Europäischen Rat geholt. Dort herrscht nicht Demokratie, sondern Einstimmigkeit. So macht man aus einem gemeinsamen Europa mit starken, demokratisch legitimierten europäischen Institutionen einen europäischen Staatenbund. Das ist eine politische Regression.
Und
anstatt all dies in einem transparenten Prozess unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft zu diskutieren und zu entscheiden, verhandeln Diplomaten in Hinterzimmern und rücken die Dokumente zu den Beratungen nur raus, wenn nationale Parlamente ihnen mit Nichtratifizierung drohen oder sie von Verfassungsgerichten dazu gezwungen werden.
Ich habe keine endgültige Antwort auf die oben beschriebene Krise des demokratischen Kapitalismus.
Aber die Balance zwischen privater Gewinnmaximierung und demokratischer Teilhabe muss neu ausbalanciert werden.
Wenn wir die aktuelle Krise überwinden wollen, dann müssen wir
die Spekulation gegen einzelne Eurostaaten durch gemeinsame Anleihen beenden
eine Finanztransaktionssteuer einführen
konsolidieren und investieren und so für nachhaltiges Wachstum sorgen
Schulden durch einen Schuldentilgungsfonds abbauen – getragen von einer Vermögensabgabe
die Währungsunion zu einer echten Wirtschaftsunion mit starken europäischen Institutionen und starker demokratischer Legitimation weiter entwickeln.
Dies geht nur in einem offenen, transparenten, in einem demokratischen Prozess – nicht im Hinterzimmer.
Vielen Dank.
[1] Vgl. Wolfgang Streeck, The Crisis in Context – Democratic Capitalism and Its Contradictions, dem die nachfolgenden Überlegungen entnommen wurden.
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