Rede am 21. September 2016 beim Sonnendorf e.V. Schönau
Ein Tief über Europa
Die Europäische Union ist in einer „existentiellen Krise“ – sagt einer der es wissen sollte. es war Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker der in seiner Rede zur Lage der Union diese Worte wählte.
Es war nicht die ganze Wahrheit. Die EU ist in multiplen Krisen.
Über Europa liegt ein politisches Tiefdruckgebiet .
- Die Briten wollen raus aus der Europäischen Union.
- Marion le Pen und Geert Wilders Norbert Hofer verspricht seinen Österreichern die Freizügigkeit abzuschaffen – er will über Schengen abstimmen lassen.
- Gleichzeitig rücken gewaltsame Konflikte immer näher an Europa heran – Irak, Syrien, Libyen, Ukraine.
- Bis heute sind die Folgen der Finanzkrise noch lange nicht überwunden. In Spanien, Portugal, Griechenland sind 25 % arbeitslos.
Aber der Reihe nach:
Brexit
Am 23. Juni stimmten die Briten für den Brexit. Zum ersten Mal ein Rückschritt in der europäischen Integration. Nach Jahrzehnten, in denen wir immer mehr Europa erreicht haben, jetzt zum ersten Mal: weniger Europa.
Der Schock sitzt tief. Die wirtschaftlichen Folgen sind bisher kaum abzusehen.
Rechtspopulisten
Europas Rechtspopulisten jubeln trotzdem. „Bye bye Brüssel“, twitterte Geert Wilders, der Chef der niederländischen Partei für die Freiheit. Und kündigte schon mal großspurig – und verfrüht, wie sich inzwischen gezeigt hat – an: „Und die Niederlande werden die Nächsten sein!“
Marion Le Pen, die Nichte von Marine, forderte auf Twitter gleich den Frexit. Auch der Chef der Dansk Folkeparti, Kristian Thulesen Dahl, will raus aus der EU, um Selbstbestimmung zurück zu gewinnen, wie er sagt.[1]
Flucht und Vertreibung
Selber bestimmen wollen die Rechtspopulisten vor allem über nationale Grenzen. Sie benutzen dabei die große Anzahl der Menschen auf der Flucht zur Stimmungsmache. Tatsächlich sind heute so viele Menschen zur Flucht gezwungen sind wie noch nie.
Dabei wundert mich eher, wie wenig Flüchtende in Europa ankommen. Die meisten der 60 Millionen Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, sind Binnenflüchtlinge.
Ein Beispiel: Es sind zurzeit etwa 60% der syrischen Bevölkerung auf der Flucht. Davon sind allein 8,7 Millionen Menschen innerhalb Syriens auf der Flucht.
Diejenigen, die das Land verlassen haben, fliehen zu 2/3 in Nachbarländern. Sie bleiben also in der Region. Der Großteil der Syrerinnen und Syrer ist in die Türkei, den Libanon, nach Jordanien, Irak und Ägypten geflohen. Nur ein kleinerer Teil kommt nach Europa. Im Libanon ist etwa jeder 4. Bewohner Flüchtling.
Wir sind so mit uns selbst beschäftigt, dass wir das nicht sehen wollen.
Wenn im menschenleeren Mecklenburg-Vorpommern mit seinen 1,6 Mio. Menschen und Tausenden von leerstehenden Wohnungen 10.000 Flüchtlinge untergebracht werden müssen, dann haben wir angeblich ein Problem. Und auf der reichen Insel Usedom wählen in Peenemünde oder Trassenheide 40 % AfD und 10 % NPD.
Ja, wir haben ein Problem. Mit Rassismus und Rechtsradikalismus.
Ring der Instabilität
Wir haben die Europäische Nachbarschaftspolitik mal begonnen, damit Europa von einem Ring der Freunde umgeben ist.
Wenn wir uns jetzt umschauen liegt eher ein Ring der Instabilität um den Kontinent. Von der Ukraine, über die Türkei, Libyen und Syrien. In der Peripherie Europas erstarken Autokraten und zerfallen Staaten.
Finanzkrise
Hier in Deutschland reden wir uns gerne ein, die Finanzkrise liegt hinter uns. Uns geht’s doch gut. Dabei sind die Folgen der Finanzkrise noch lange nicht überwunden.
In Italien zum Beispiel hat sie sich inzwischen zur Bankenkrise ausgewachsen. Die italienischen Institute schieben faule Kredite im Wert von mehr als 333 Milliarden Euro vor sich her.[2]
Hier „droht der Untergang der europäischen Einheitswährung“, warnt der Economist.[3]
Legitimitätskrise
So schlimm das klingt, die bedrohlichste Krise für die EU habe ich noch gar nicht genannt. Sie ergibt sich aus diesem Krisenpanorama und der Wahrnehmung, dass die EU nicht mehr Herrin der Lage ist. Es folgt: Europas Legitimitätskrise.
Die Legitimität der Europäischen Union fußt auf drei großen Versprechen:
- Frieden für alle,
- Demokratie für alle,
- Wohlstand für alle.
Solange die Bürger glauben, dass Europa das nicht mehr leisten kann, können Populisten mit der Mär vom starken Nationalstaat punkten.
Die Souveränitätslüge
Und das tun sie.
Während Demokraten in den USA mit dem Slogan „Stronger together“ Wahlkampf machen, versprechen die Populisten der Welt derzeit das Gegenteil: alleine sind wir stark.
„Wir wollen unser Land zurück“ forderten zum Beispiel Farage und seine Brexiteers. In Frankreich fühlt Marine Le Pen sich gar als Teil einer „europäischen Sowjetunion“.
Und der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders will endlich „die Kontrolle über sein Land, sein Geld und seine Grenzen“ von der EU zurück.[4]
Die Populisten predigen Renationalisierung und versprechen dafür mehr Souveränität. Doch dieses Souveränitätsversprechen ist eine Lüge.
Nationale Kontrolle in den Zeiten umfassender Globalisierung ist eine Illusion.
Nehmen wir Wilders doch mal beim Wort: sein Geld, seine Grenzen? Als nächstes der Nexit? Diese Rechnung der Nationalisten geht nicht auf. Ich will ihren Rechenfehler mal kurz an drei Bereichen aufzeigen Wirtschaft, Klimaschutz und Außenpolitik aufzeigen.
Wirtschaft
Wilders will also die Grenzen schließen.[5] Das wird teuer. Denn: „Wer Schengen killt, wird den Binnenmarkt zu Grabe tragen„, sagt der EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker.
Und er hat Recht. Wenn die innereuropäischen Grenzen dauerhaft geschlossen werden, kostet das die europäische Volkswirtschaft in zehn Jahren schätzungsweise 110 Milliarden Euro.[6] Das wäre ein wirtschaftliches Desaster. Wenn Wilders also seine Grenzen zumacht, ist auch sein Geld weg.
Die AfD will die Uhren auf 1993 zurückstellen. Europa wäre dann nur noch eine reine Wirtschaftsgemeinschaft. Die Folge: die Wiederauferstehung des entfesselten Neoliberalismus.
Sie würden Europa nicht nur in einen Wettlauf von Abwertung und Steuerdumping schicken – sie würden es dem einzigen Instrument berauben, mit dem Globalisierung gestaltet werden kann.
Nur Europa ist in der Lage Standards für die Welt zu setzen, wie es dies in der Chemiepolitik mit REACH tat und wie es lange beim Klimaschutz als Vorreiter agierte.
Die Populisten irren eben doppelt: man kann nur gemeinsam handeln, man kann nur gemeinsam sinnvoll regulieren.
Souverän ist nur, wer in der Lage ist entfesselte Märkte zur regeln und zu begrenzen.
Es geht nicht mehr um nationale, es geht um demokratische Souveränität.
Und die gibt es nur in einem gemeinsamen Europa.
Der sogenannte „wirtschaftliche Patriotismus“ eines Geert Wilders ist daher nicht patriotisch, sondern unwirtschaftlich – und dumm. Bill Clinton hatte Recht:
„It’s the economy, stupid“. Leider bestimmen die stupids heute den Diskurs.
Klimaschutz
Die AfD glaubt nicht an den Klimawandel und stemmt sich gegen die Energiewende. Auch Geert Wilders Partei will alle Haushaltsmittel zur Bekämpfung der Klimakrise streichen. Sie erregt sich regelmäßig über den „bösen grüne-Windräder-Subventions-Komplex“.[7]
Glücklicherweise bestimmen aktuell weder Wilders noch die AfD über die Klima- und Energiepolitik.
In Polen stemmt sich die Regierungspartei PiS gegen ambitioniertere Klimaziele.
Frau Merkel gefällt das. Kann sie sich doch hinter den Polen verstecken – nachdem sie zuvor dafür gesorgt, dass über Klimafragen nicht mehr im Rat der Umweltminister mit Mehrheit sondern im Europäischen Rat unter dem Zwang zur Einstimmigkeit entschieden werden darf.
Folglich gibt keine verbindlichen und auch sanktionierbaren Ziele für den Ausbau Erneuerbarer Energien und die Einsparung von Energie – und sie sind mit 27 % bis 2030 auch nicht hinreichend. Auch das Ziel der Einsparung von 40 % der Treibhausgase droht verfehlt zu werden – ein funktionierender Emissionshandel durch Herausnahme von Zertifikaten wird blockiert.
National sieht es nicht besser aus. Die eigenen Gutachter bescheinigen der Bundesregierung, dass sie schon ihr 2020-Ziel verfehlen wird. Der Klimaschutzplan von Umweltministerin Hendricks wird zuerst vom eigenen Parteivorsitzenden, dem Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel verwässert. Ins Kanzleramt weiter geleitet wird der Plan von Angela Merkel in den Papierkorb befördert.
Die Motoren des Klimaschutzes sind heute andere. Das Abkommen von Paris verdanken wir vor allem China und den USA. Die beiden haben das Abkommen auch schon ratifiziert.
Wenn die Europäer weiter bremsen, werden sie ihre Klimaziele verfehlen.
Die Konsequenzen reichen weit über den Kontinent heraus. Treibhausgase aus Europa treiben die Meeresspiegel der Weltmeere in die Höhe, sodass ganze Inselstaaten vom Untergang bedroht sind und immer weiter Menschen zur Flucht zwingen.
Außenpolitik
Und damit sind wir auch schon bei der Außenpolitik. Die Welt da draußen ist für die Populisten ‚das Andere‘, fremd.
Alles was anders ist, benutzen die Le Pens, Wilders, Hofers und Petrys dieser Welt, um Ängste zu schüren und Hass zu predigen. Dann versprechen sie davon Abhilfe durch Abschottung.
Renationalisierung ist die Patentlösung der Populisten.
Dabei verschweigen sie gleich zwei Wahrheiten:
- man kann sich vor den Herausforderungen der Gegenwart nicht abschotten.
- Und man kann sie auch nicht alleine lösen.
Die Herausforderungen der Gegenwart kennen nämlich keine Grenzen.
Die Globalisierung ist heute umfassend. Krisen und Konflikte bedingen und verstärken sich gegenseitig. Die Konsequenz: Innen- und Außenpolitik sind nicht mehr klar voneinander zu trennen. Oft wird unsere eigene Politik selbst zum Risikofaktor.
Ein Beispiel: europäische Rüstungsexportpolitik.
Die Bundesregierung hat zuletzt fleißig Rüstungsgüter nach Saudi Arabien und die Golfstaaten exportiert. Das passt zu Merkels sicherheitspolitischer Doktrin: strategische Partner zu ertüchtigen.
Die mit deutschen Panzern und Küstenschiffen gerüsteten strategischen Partner bomben damit gerade den Jemen zurück in die Steinzeit und haben Zehntausende zur Flucht gezwungen. Wir brauchen endlich ein Rüstungsexportkontrollgesetz.
Doch: Effektive Rüstungskontrolle kann nur europäisch sein.
Sonst läuft es so: was Saudi-Arabien bei uns nicht kaufen kann, kauft es eben in Frankreich.
Ein weiteres Beispiel: europäische Libyen-Politik.
Eigentlich muss man sagen: die europäischen Libyen-Politiken. Plural.
Großbritannien, Frankreich und die USA haben Libyen zerstört. Sie haben aus ihm einen failed state werden lassen – nachdem sie über Jahre den Despoten Gaddafi hofiert hatten, damit er ihnen Waffen abkauft, Gas verkauft und Flüchtlinge fernhält.
Sie haben es getan, gegen den Rat ihrer eigenen Armeeführungen. Sie haben es getan, ohne die Idee einer politischen Lösung für den Tag danach – vor allem aus innenpolitischen Motiven.
Wer die Geschichte dieses Desasters nachlesen will, lese den Bericht des konservativen Ausschusses des britischen Unterhauses dazu.
Libyen war und ist ein Beispiel für die Doppelmoral Europas wie der USA.
Jetzt soll die UNO den Scherbenhaufen zusammenkehren.
Offiziell unterstützen alle EU-Staaten und die USA die Mission des UN-Sondervermittlers Martin Kobler zum Aufbau einer libyschen Einheitsregierung. Das ist ein schwieriger und vor allem langwieriger Prozess. Noch schwieriger wird Martin Koblers Geschäft dadurch, dass ihm Europäer und Amerikaner in der Praxis in den Rücken fallen. Offiziell überwacht die EU auf See das Waffenembargo.
Tatsächlich will Italien möglichst schnell, dass keine Flüchtlinge mehr aus Libyen kommen Deshalb unterstützt Italien den General Haftar, zusammen mit Ägypten. Für ihn haben die Russen eine eigene Devisenbank eingerichtet. Haftar verweigert – im Einklang mit dem Parlament – der Einheitsregierung die Gefolgschaft aber hat schon mal die Ölhäfen besetzt.
Derweil stützen die USA die Muslimbrüder der Misrata-Milizen, ausgerüstet durch Qatar und die Türkei, beliefert über den Sudan. Sie wollen möglichst kurzfristig den IS ausschalten, vor allem aber verhindern, dass Haftar mehr Land gewinnt.
Die Regierung selbst hat in Libyen kaum Unterstützung. Sie sitzt in einem Marinestützpunkt bei Tripolis fest. Es droht der große Clash der von Europäern wie den USA unterstützten Milizen.
Der Bürgerkrieg in Libyen hält die Bundesregierung aber nicht davon ab, sich mit der EU auf eine Rutschbahn zum Auslandseinsatz in Libyen zu begeben.
Schon jetzt betreibt Operation Sophia Flüchtlingsabwehr im Mittelmeer. Als nächstes bilden wir die libysche Küstenwache aus – ohne zu wissen, welche Miliz denn nun die libysche Küstenwache stellt. Am Ende dieser Rutschbahn droht ein Einsatz europäischer Truppen in Libyen – ein Turbo für den Islamismus. Und eine Beschleuniger für neue Flüchtlingsbewegungen.
Die Bundesregierung und ihre europäischen Partner wollen lieber Flüchtlingsabwehr betreiben statt Fluchtursachen zu bekämpfen. Das wird die Zahl der Flüchtlinge erhöhen.
Der Versuch, sich angesichts der außenpolitischen Herausforderungen hinter nationalen Grenzen zu verschanzen, ist zum Scheitern verurteilt.
Die Herausforderungen wird das nicht mindern, wohl aber unsere Fähigkeit, sie anzugehen.
(Gem)einsam Stärker
Die Farages und Johnsons hatten den Briten im Falle eines Brexits mehr Handlungsfähigkeit versprochen. Jetzt haben sie weniger. Aktuell haben Briten 13 % der Kaufkraft durch die Abwertung des Pfunds verloren.
Im Verhältnis schwächt der Ausstieg Großbritannien mehr als die EU. Aber die Gefahr besteht natürlich, dass das Beispiel Schule macht. Es hat ja schon Schule gemacht.
Aktive Desintegration haben nicht die Rechtspopulisten erfunden.
Es war schließlich Cameron selbst, der Europa zu einem bloßen Binnenmarkt ohne Arbeitnehmerfreizügigkeit machen wollte. Und es waren Schäuble und Merkel, die die europäische Finanzkrise zur griechischen, spanischen, portugiesischen oder irischen „Staatsschuldenkrise“ umdefiniert haben.
Vor dem Brexit kam Deutschlands Versuch, den Grexit zu erzwingen.
Gott sei Dank von Frankreich und Italien gestoppt.
In den vergangenen Jahren haben Konservative die europäische Agenda bestimmt. Eine konservative Mehrheit in der Kommission, im Rat und im Parlament hat auf freie Märkte und Deregulierung gesetzt.
Eine Sozialunion wurde abgelehnt, gegen soziale oder ökologische Standards wie die Anti-Diskriminierungsrichtlinie oder den Emissionshandel wurden ganze Wahlkämpfe geführt.
In der Folge ist die Ungleichheit in Europa gewachsen. Seit dem Beginn der Finanzkrise hat das Einkommensgefälle zwischen den EU-Mitgliedstaaten deutlich zugenommen.[8]
Inzwischen sehen wir:
Wer durch harte Austeritätspolitik die Ungleichheit verstärkt, macht die Rechten stark.
Die Logik „wenn jeder an sich selber denkt ist an alle gedacht“ funktioniert eben nicht.
Wie wir Europa zusammenhalten
Wer Europa zusammenhalten will, muss die Gesellschaften zusammenhalten.
Dafür müssen die drei großen Versprechen Europas erneuert werden. Frieden. Demokratie. Wohlstand. Und zwar für alle.
Frieden
Frieden für alle ist mehr als nicht mehr gegeneinander Krieg zu führen. Es geht um die Bewältigung der Krisen in unserer Nachbarschaft – den schwelenden Konflikt in der Ukraine, den Staatszerfall in Libyen, den blutigen Krieg in Syrien. Ohne Frieden bei den Nachbarn ist die Flüchtlingskrise nicht zu lösen. Die Niederlande, Frankreich, selbst Deutschland kann hier alleine nichts ausrichten.
Wir brauchen ein starkes Europa auf der Weltbühne. Auch deshalb, weil die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der europäischen Union anders an die Herausforderungen der Gegenwart herangeht. Die EU hat verstanden, dass wir uns um „vorbeugenden Frieden“ bemühen müssen. Das schreibt die EU-Außenbeauftrage in der neuen Globalen Strategie.
Dazu gehören mehr zivile Einsätze, der EU aber auch und gerade der Vereinten Nationen. Denn modernen Krisen erfordern mehr Polizisten als Panzer.
Demokratie
Das zweite Versprechen der EU ist: mehr Demokratie. Dieses Versprechen hat den Süden und später den Osten Europas nach Jahrzehnten der Diktatur und Autokratie in die EU geführt. Heute wird die Erneuerung dieses Versprechens gerne auf die Forderung nach mehr Mehrheitsentscheidungen und mehr Transparenz reduziert. Das wird allein nicht ausreichen.
Was sogar schadet, sind die Versprechungen, mehr auf die nationale Ebene zurück zu verlagern. Man wird sie nicht halten können. Zur Ehrlichkeit gehört: Keines der drängenden globalen Probleme – von Wachstumsschwäche über Klimawandel bis Staatszerfall – kann besser national als europäisch gelöst werden.
Es muss also die Legitimität europäischer Entscheidungen verbessert werden. Und die steigt, wenn wir bessere Ergebnisse liefern.
- Wenn heute alle Entscheidungen im Rat öffentlich und fast alle mit Mehrheit erfolgen, dann darf man nicht wichtige Entscheidungen in den Europäischen Rat hinter verschlossene Türen in die Einstimmigkeit
- Wenn es – wie in Deutschland – eine Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit dem Bundestag, eine Pflicht zur Übermittlung aller Dokumente vorab gibt, dann dürfen Entscheidungen nicht auf informelle Mittagessen oder zunehmend ins Politisches Sicherheits Kommitee verlagert
- Und wenn es eine europäische Bürgerinitiative gibt, dann darf man sie nicht wie bei TTIP einfach auflaufen lassen, nur weil einem das mögliche Ergebnis nicht passt.
Und wir brauchen eine Stärkung der europäischen Identität. Dass es so etwas überhaupt gibt, dass haben viele Europäer erst nach dem Brexit erstaunt bei sich festgestellt. Wir sind schon lange nicht mehr nur Deutsche, Franzosen, Polen oder Spanier.
Wir sind Unionsbürger, wir sind als Deutsche, Franzosen, Polen oder Spanier Europäer. Und dazu passt ein europäischer Pass.
Wohlstand
Das zentrale Versprechen aber, das erneuert werden muss, ist: Wohlstand für alle. Mit diesem Versprechen hat die europäische Integration einst begonnen. Und mit diesem Versprechen haben auch die Süd- und Osterweiterungen begonnen.
Dafür müssen wir endlich die Wirtschaftskrise überwinden. Wir brauchen in Europa mehr Investitionen – vor allem in Infrastruktur. Europa braucht gemeinsame Strom-, Gas- und Kommunikationsnetze. Und wir brauchen eine ökologische Modernisierung.
Wir brauchen einen Green New Deal
Statt Milliarden an Subventionen im AKW Hinkley Point C zu versenken, brauchen wir eine europäische Energiewende. Das schafft Arbeit, Wohlstand und Energieunabhängigkeit.
Nur so können wir die Arbeitslosigkeit in der Peripherie überwinden. Dafür bedarf es solider Finanzierung. Ein Schritt dahin ist das Schließen legaler Steuerschlupflöcher. Legen wir die Steuersümpfe in den Niederlanden, in Irland und Luxemburg endlich trocken. Auch dies schafft kein Staat alleine gegen Google, Apple und VW und BASF.
Nötig ist die Einführung einer Finanztransaktionssteuer.
Fazit
Es geht nicht darum, Europa schön zu reden. Es geht darum, für eine europäische Demokratie zu streiten. Und für einen gesellschaftlichen Ausgleich, europaweit. Klar gibt es auch Rückschläge und Defizite – aber niemand käme doch auf die Idee, die deutsche Demokratie abzuschaffen, nur weil wir Lobbyismus haben oder uns eine Entscheidung nicht gefällt.
Die Debatte über unser gemeinsames Europa könnte ein bisschen mehr Realismus vertragen. Die EU ist entstanden, weil die Mitgliedstaaten verstanden hatten, dass sie mehr erreichen, wenn sie etwas nationale Souveränität aufgeben.
Als der französische Außenminister Robert Schuman 1950 seinen Plan zur Vergemeinschaftung der Kohle- und Stahlindustrie vorstellte, erklärte er:
„Europa lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen. Es wird durch die konkrete Umsetzung entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schafft.“[9]
Das gilt auch heute noch:
Wir können unseren gemeinsamen Herausforderungen nur gemeinsam mit unseren europäischen Partnern begegnen. Wir dürfen uns unsere Handlungsfähigkeit nicht von den Populisten nehmen lassen.
Nur so erlangen wir demokratische Souveränität im Zeiten umfassender Globalisierung.
Wir sind gemeinsam stärker.
Vielen Dank.
[1] http://www.spiegel.de/politik/ausland/brexit-die-rechten-in-europa-fordern-ebenfalls-eu-referendum-a-1099491.html
[2] http://www.fr-online.de/wirtschaft/italien-italiens-bankenkrise-bedroht-eu,1472780,34484518.html
[3] http://www.economist.com/news/leaders/21701756-italys-teetering-banks-will-be-europes-next-crisis-italian-job
[4] http://www.nytimes.com/live/eu-referendum/geert-wilders/
[5] http://www.spiegel.de/spiegel/geert-wilders-ich-will-die-grenzen-schliessen-a-1100944.html
[6] http://www.spiegel.de/politik/ausland/schengen-aus-frankreich-errechnet-110-milliarden-euro-schaden-a-1075369.html
[7] http://www.economist.com/news/europe/21656730-wind-energy-once-powered-netherlands-not-anymore-dutch-quixote
[8] http://www.fu-berlin.de/presse/informationen/fup/2015/fup_15_185-ungleichheit-europa-finanzikrise/index.html
[9] http://www.europa.clio-online.de/site/lang__de/ItemID__30/mid__11373/40208215/default.aspx
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