In Istanbul fand vom 18. bis 21. November 2016 die diesjährige Jahrestagung der Parlamentarischen Versammlung der NATO statt. Sie wurde überschattet vom rapide stattfindenden Abbau des Rechtsstaates im NATO-Mitgliedsstaat Türkei.
Die deutsche Delegation hatte sich schon vorher darauf verständigt, gerade mit der Opposition in der Türkei das Gespräch zu suchen und die türkische Regierung auf den anhaltenden Abbau demokratischer Rechte und die Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien anzusprechen. Dies geschah nicht nur in Gesprächen der Delegation mit – zwischenzeitlich verhafteten – Abgeordneten der HDP. Es kam zu einer scharfen Kontroverse im Ausschuss für zivile Zusammenarbeit mit dem türkischen Justizminister. Der deutsche Delegationsleiter Karl Lamers (CDU/CSU) fand deutliche Worte gegenüber den Medien.
Ganz anders NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der gegenüber Staatpräsident Erdogan weder die Lage in der Türkei, noch ihre Konflikte mit der NATO ansprach.
Mitglieder der Delegation führten eine Reihe von Gesprächen mit den Oppositionsparteien HDP und CHP und Organisationen der Zivilgesellschaft und besuchten die bedrohte Zeitung Cumhurriyet. Ich nahm außerdem an einem Side-event der österreichischen, der belgischen und luxemburgischen Delegation teil.
Die Einschätzung, dass die Türkei „Nicht mehr an einem Scheideweg steht, sondern den Weg der Demokratie mit großen Schritten verlässt“, so Amnesty International Experte Andrew Gardener, ist leider zutreffend. Als Antwort auf den gescheiterten Putschversuch findet ein institutioneller Gegenputsch statt.
Von einem funktionierenden Rechtsstaat kann keine Rede sein. Mit der Suspendierung von 3500 der 13.000 Richter fehlt vielerorts der gesetzliche Richter. Diese Suspendierungen, Verhaftungen und Misshandlungen schüchtern die verbleibenden Richter ein. Zum Teil werden Nachwuchsjuristen ohne zweites Staatsexamen ins Richteramt gehievt. Inhaftierte haben keinen Zugang zu einer freien Verteidigung. Sämtliche Mandantengespräche in Gefängnissen können mit Bild und Ton aufgezeichnet werden und stehen der Staatsanwaltschaft zur Verfügung.
Die Säuberungen im Öffentlichen Dienst halten an. Über 100.000 Menschen wurden entlassen. Nach Polizisten, Soldaten und Lehrern sind nun die Universitäten dran. Erst zu diesem Wochenende wurden über 100 Wissenschaftler in Istanbul entlassen. Rektoren werden vom Präsidenten persönlich ernannt. Die nächste Säuberungswelle wird im Gesundheitssystem erwartet. Die Entlassungen bedeuten häufig Existenzvernichtung. Es geht nicht nur um den Verlust von Pensionen. Vielfach wird auch ein Arbeitsverbot praktiziert.
Die kommunale Selbstverwaltung existiert nur noch von Gnaden des Präsidenten. Inzwischen sind über 25 frei gewählte HDP-Bürgermeister abgesetzt und zum Teil inhaftiert worden.
Folter ist – nach übereinstimmenden Berichten von Amnesty International wie des Europarats – wieder in die Türkei zurück gekehrt. Dies gilt gerade für die Zeit unmittelbar nach der Festnahme. Es könne noch nicht von systematischer Folter gesprochen werden. Ihre faktische Straflosigkeit führe aber zu einem Zustand, den die Türkei seit 15 Jahren überwunden hatte.
Die Pressefreiheit ist massivst bedroht. Nicht nur die Maßnahmen gegen die Medien der Gülenbewegung hat die Medienlandschaft uniform gemacht. Allein 10 Mitarbeiter von Cumhurriyet wurden inhaftiert. Die Zeitung bekam auch keine Akkreditierung für die NATO-PV.
Eine parlamentarische Kontrolle durch die Opposition findet faktisch nicht mehr statt. Die rechtsradikale MHP sucht den Schulterschluss mit der AKP. Die kemalistische CHP hat zwar die Aufhebung der Immunität einer Reihe von Abgeordneten mit ermöglicht, sieht sich nun aber zunehmend in die Ecke gedrängt.
Die HDP wird massiv kriminalisiert. Zehn ihrer Abgeordneten sind inhaftiert, zum Teil im Gegensatz zum Wortlaut der Verfassung. Das Vertreten des vom Verfassungsgericht geprüften Statuts der HDP, das sich für eine Selbstverwaltung der Kurden ausspricht, führt zur Anklage wegen Mitgliedschaft in einer Terrorvereinigung. Es ist mit 15 Jahren Haft bedroht. Wieder frei gelassene Abgeordnete sind mit einem Reiseverbot belegt. Dies gilt auch für die, die eine zweite, deutsche, Staatsbürgerschaft haben. Für ihre Freilassung hatte sich gerade die Deutsche Botschaft stark gemacht. Der Anschlag auf die Polizeistation in Diyarbarkir am 04.11. traf die Halle in dem die inhaftierten HDP-Mitglieder untergebracht waren.
All diese Maßnahmen, so unsere Gesprächspartner übereinstimmend, zielen darauf eine sichere Mehrheit für das Referendum über eine Präsidialverfassung herzustellen und den Widerstand dagegen zu brechen. Das Referendum ist für März oder April 2017 geplant. Es wird erwartet, dass auch die Frage der Todesstrafe einem Referendum zugeführt wird – und sie dann auch eine Mehrheit bekommt.
Hierauf hat die Europäische Union noch keine Antwort gefunden. Es ist notwendig, den Beitrittsprozess einzufrieren, wenn sich die Türkei mit der Bejahung der Todesstrafe von den Grundfesten Europas abgewandt hat. Aber es ist dann notwendig, nicht jetzt. Es ist jedoch bereits heute nicht mehr nachzuvollziehen, dass einem Land, das gerade die Gewaltenteilung abgeschafft hat, aus europäischen Töpfen über 4 Mrd. Heranführungshilfen, darunter auch Gelder für Rechtsstaatsaufbau, zufließen sollen. Es wäre eine Belohnung für die Abrissbirne.
Auch militärisch muss das Verhalten der Türkei der NATO Sorgen machen. Inzwischen haben die ersten türkischen Offiziere aus Furcht vor Verfolgung in Rammstein Asylanträge gestellt. Die Zerstörung der HDP ist die Zerstörung der friedlichen Brücken zwischen der Türkei und der kurdischen Bevölkerung. Es droht eine gewaltsame Eskalation. Im Irak, wo Deutschland Truppen ausbildet, fährt die Türkei völkerrechtswidrige Operationen durch, zum Teil mit Rüstungsgütern, die aus Deutschland geliefert wurden. In Syrien haben ihre Operationen special forces des NATO-Partners USA, die kurdischen Kämpfer ausbildeten und führten, zum Rückzug gezwungen.
Vor dem Hintergrund der praktizierten Bündnisuntreue sollten Waffenlieferungen aus den NATO-Staaten an die Türkei unterbleiben. Die Grünen haben den Tornado-Einsatz wegen des fehlenden UN-Mandats abgelehnt. Angesichts des Vorgehens der Türkei gegen die Kurden in Syrien und dem Irak sollte Deutschland seinen Einsatz nunmehr dringend beenden. Es kann nicht sichergestellt werden, dass die Türkei Lagebilder von ihnen gegen die Kurden zum Einsatz bringt.
Wirtschaftlich geht die Türkei schweren Zeiten entgegen. Das Land ist in der Kreditwürdigkeit auf dem Niveau von Ramsch gelandet. Die Währung verliert an Wert, Touristen und ausländische Direktinvestitionen bleiben aus. Dies würde die Legitimation Erdogans langfristig in Frage stellen – doch eben nur langfristig. Es steht zu befürchten, dass schlechte Zahlen im Frühjahr 2017 ihm beim Referendum sogar nutzen können.
Europa und die NATO sollten mit der Türkei im Gespräch bleiben – aber dabei Klartext reden und kohärent handeln. Dazu gehört ein Stopp von Waffenlieferungen, der Abzug der Tornados, das Einfrieren der Heranführungshilfen – und die klare Ansage, dass bei Einführung der Todesstrafe der Beitrittsprozess suspendiert wird. Auch ein möglicher Upgrade der Zollunion muss an die Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit geknüpft werden.
Auch der Flüchtlingspakt zwischen EU und der Türkei ist kein Grund auf diese Klarheit und Kohärenz zu verzichten. Zum einen ist die Türkei auf die EU-Hilfe für Flüchtlinge angewiesen. Zum zweiten angesichts der Repression nach innen inklusive der Reiseverbote hat Türkei kein Interesse an offenen Grenzen. Hinzukommt, dass Überstellungen an die Türkei wegen des Verstoßes gegen das non-refoulment Verbots und der Verfolgung in der Türkei schwieriger werden dürften.
NATO Parlamentarische Versammlung
Die überwiegende Mehrheit der Anwesenden bestätigte noch einmal die Beschlüsse des NATO-Gipfels von Wales. Hierbei setzte sich das weichere Wording Deutschlands zum 2%-Ziel bei den Rüstungsausgaben durch.
Auch hier dominierte das Selbstverständnis, dass die NATO sich vor allem mit symmetrischen Herausforderungen konfrontiert sah. Deshalb wurde viel Gewicht auf die Auseinandersetzung mit Russland gelegt.
Auf die asymmetrischen Herausforderungen wie Staatszerfall und die Herausforderung durch Gruppen wie DAESH gab es keine überzeugende Antwort. Auch die sich gegenseitig widersprechenden Operationen von NATO-Mitgliedern etwa in Libyen wurden zwar von mir thematisiert, lösten aber vor allem Schweigen aus.
Gesprächspartner
Ziya Pir, Abgeordneter der HDP, Mitglied der PV der NATO, zeitweilig inhaftiert, Reisban
Hisyar Özsoy, Abgeordneter der HDP, stellvertretender Parteivorsitzender
Ogus Kaan Salilici, Abgeordneter der CHP, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss
Aydin Engin, langjähriger Redakteur der Cumhurriyet, mit Reiseverbot belegt
Orhan Erinc, Vorsitzender des Stiftungsrats der Cumhurriyet
Andrew Gardener, Experte Amnesty International Türkei
Prof. Aydan Ugur, Turkish Economic and Social Studies Foundation (TESEV)
Martin Erdmann, Deutscher Botschafter in der Türkei
Kristian Brakel, Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung Istanbul
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