Vorsorgeprinzip oder die Rolle Rückwärts in der Umweltpolitik
100 von 3800 angeschriebenen Lungenfachärzten haben Zweifel an den seit einem Jahrzehnt geltenden Grenzwerten für Stickoxide und Feinstäube angemeldet – gesponsert von Bild schaffen sie es bis in die Tagesschau. Und einen Tag später hofft Bild: „Rolle Rückwärts: Kommt das Verbot vom Diesel-Fahrverbot?“.
Womit wenigstens eine Frage geklärt ist. Warum ein paar Lungenärzten ihre Bedenken erst jetzt kommen und nicht schon vor zehn Jahren. Heute drohen wegen der Missachtung geltender Gesetze Fahrverbote für Diesel.
Die Bedenken kamen nicht während der Gesetzgebung. Und auch die sonst sehr eifrige Autolobby hatte diese Einwände während der Gesetzgebung nicht erfolgreich vortragen können. Im Gegenteil. Mercedes, BMW und Volkswagen haben sogar behauptet, ihre Fahrzeuge würden diese Grenzwerte einhalten. Doch nachdem ihr Betrug aufgeflogen ist, sollen nun die Grenzwerte schuld sein.
Eigentlich wäre damit alles gesagt über den Gehalt dieses Vorstoßes. Doch das Echo, das der Brief fand, deutet auf eine ernste Diskursverschiebung. Gelegentlich werde ich als Grüner gefragt, was an uns noch das Besondere sei – inzwischen seien doch alle Parteien grün. Das Gegenteil ist der Fall, wie sich eben hieran zeigt.
Tatsächlich haben wir es mit dem Versuch zu tun, einen Konsens in der europäischen Umweltpolitik in Frage zu stellen: Das Vorsorgeprinzip. Offenkundig wird dies an der Amnesie der Parteien rechts der Mitte.
Heute will Christian Lindner (FDP) geltendes Recht durch ein „Moratorium“ aushebeln, wissend, dass er keine Mehrheit für eine Gesetzesänderung bekommt. Andreas Scheuer (CSU) sieht in dem studienfreien Vorstoß einzelner Ärzte „das Gewicht, den Ansatz des Verbietens, Einschränken und Verärgerns zu überwinden“. Peinlich für beide: die liberale Fraktion hat 2007 den Grenzwerten ebenso zugestimmt wie weite Teile der Europäischen Volkspartei, für die nun mit Manfred Weber von der CSU in den Wahlkampf zieht.
Europa für etwas zu beschimpfen, was man selbst mitbeschlossen hat, ist Quelle von Europafeindlichkeit und Steilvorlage für Nationalisten und Rechtsradikale.
Doch es geht um mehr, als um politische Verlogenheit. Im Kern machen sich CSU und FDP die Argumente der 100 Ärzte zu Eigen. Deren Argumentation lautet schlicht – es gibt noch andere Faktoren an denen Menschen sterben können – Rauchen, Fressen, Saufen etwa. Was fehle, sei eine echte Kausalität.
Da muss ich mich schuldig bekennen. Nicht wegen der Grenzwerte, sondern wegen des Rußpartikelfilters. Er dient dazu, die Feinstaubbelastung aus Dieselmotoren drastisch zu reduzieren. Durchgesetzt wurde der Filter in einem dreijährigen Kampf gegen die Vorstände und Betriebsräte der Automobilindustrie. Mit Erfolg, seit 2012 sinken die Feinstaubelastungen.
Doch eine Kausalität lag für diese gesetzliche Regelung nicht vor. Es gab – und gibt eine wachsende – Evidenz, dass Feinstäube Lungen- und Herz-Kreislauferkrankungen begünstigen, belegt durch unzählige Studien. Wie es eine Evidenz dafür gibt, dass Rauchen Lungenkrebs und Herzinfarkte wahrscheinlicher macht. Und trotzdem ist Helmut Schmidt 97 geworden.
Die 100 Pulmologinnen und Pulmologen beklagen fehlende Kausalität. Das ist wenig wissenschaftlich. Es erinnert an jene, die im Netz über die ´“Cholesterinlüge“ ätzen oder darauf verweisen, dass es keinen Beweis für die Unschädlichkeit von Chemtrails gäbe. In beiden Fällen spricht die Evidenz gegen die Positionen.
Evidenz spielt in der Medizin eine zentrale Rolle. Behandlung findet durchgehend auf der Basis von Evidenz statt. Aber nicht nur in der Medizin, sondern auch in der Umweltpolitik spielt Evidenz eine zentrale Rolle. Sie ist Grundlage des Vorsorgeprinzips.
Das Vorsorgeprinzip meint nichts anderes, als dass Menschen bei Vorliegen der Evidenz einer möglichen Schädigung geschützt werden müssen. Das Vorsorgeprinzip ist vom Verfassungsgericht bestätigte Grundlage moderner Umweltpolitik. Es konnte sich bisher auf einen breiten, Parteien übergreifenden Konsens stützen.
In der von Bild und Autolobby losgetretenen Kampagne soll dieses Prinzip nun entsorgt werden. Es soll zurückgehen in jene 70er Jahre des letzten Jahrhunderts, in denen die Opfer von Holzschutzmittelvergiftungen Fall für Fall nachweisen mussten, dass ihre Vergiftung auf diese Chemikalie zurückging. Die Rolle rückwärts in die 70er darf es nicht geben.
Schon gar nicht für eine Technologie, die unabhängig von Grenzwerten sowieso keine Zukunft mehr hat – der Diesel.
Mit Marktanteilen von 1- 2 % auf den wichtigsten Automärkten außerhalb Europas ist der Diesel so modern, wie das Fax in Zeiten von Instagram. Maximal eine Nischentechnologie. In dieser Nische wird die deutsche Autoindustrie nicht überleben. Je schneller sie sie verlässt, umso besser für Jobs und Gesundheit in Deutschland.
Verwandte Artikel
Deutsche Ideologie: Nicht die Pandemie – der Nationalismus zerstört die EU
Die Europäische Union wird nach der Coronakrise eine andere sein als zuvor. Die Verheerungen der einseitigen Grenzschließungen, das Befeuern der Vorurteile gegen „die anderen“, all dies wird nicht verschwinden, selbst wenn an den meisten Grenzen wieder freie Fahrt herrscht.
Weiterlesen »
Es gibt viel zu tun – warten wir es ab
Bis zum 20. April mindestens dürfte die Kontaktsperre für
uns alle gelten. Die meisten Menschen gehen damit erstaunlich gelassen um.
Doch offensichtlich ist unsere Medienlandschaft für das Abwarten nicht eingerichtet. Auflagen, Reichweiten, Klickzahlen brauchen die Inszenierung eines Ausnahmezustands. Wohlgemerkt – seine Inszenierung. Das ist etwas anderes als die historische Sondersituation, in der wir alle leben.
Weiterlesen »
Corona – was wir jetzt tun müssen #flattenthecurve
Was wir jetzt noch tun können, ist, die Ausbreitung des Coronavirus deutlich zu verlangsamen und das exponentielle Wachstum zu dämpfen. Das hat jetzt oberste Priorität.
Weiterlesen »
Kommentar verfassen