Was am inszenierten Ausnahmezustand nervt
Bis mindestens zum 20. April dürfte die Kontaktsperre für uns alle gelten. Die meisten Menschen gehen damit erstaunlich gelassen um.
Das hat damit zu tun, dass Virologen und Epidemiologen wie die Professoren Lothar Wieler vom Robert-Koch-Institut oder Christian Drosten von der Charité komplexe Sachverhalte ebenso so seriös wie verständlich darstellen. Das ist auch das Verdienst einer Kanzlerin, die den Menschen den Ernst der Lage vermittelt hat. Den Bürgern zeigte Frau Merkel auf, wie sie sich verantwortlich verhalten können. In dem sie Distanz wahren.
Während in den Forschungslaboren fieberhaft nach einem Impfstoff und Medikamenten geforscht wird, im Gesundheitssystem die Notfallkapazitäten hochgefahren werden, während in immer mehr Pflegeeinrichtungen der Tod umgeht, gibt es für die meisten Menschen nur ein vernünftiges Verhalten: Es gibt viel zu tun – warten wir es ab.
Bei der Inkubationszeit des Virus werden wir erst gegen Ostern wissen, ob es tatsächlich gelungen ist, den Anstieg der Neu-Infektionen so zu verlangsamen, dass unser Gesundheitssystem nicht überfordert wird.
Doch offensichtlich ist unsere Medienlandschaft für das Abwarten nicht eingerichtet. Auflagen, Reichweiten, Klickzahlen brauchen die Inszenierung eines Ausnahmezustands. Wohlgemerkt – seine Inszenierung. Das ist etwas anderes, als die historische Sondersituation, in der wir alle leben.
Das gilt selbst für die – zu Recht gelobten – öffentlich-rechtlichen Sender. Sie liefern überwiegend gut recherchierte Fakten. Sie stellen sie in die Zusammenhänge, mit denen Menschen den Information-Overload zur Coronakrise besser einordnen können. Sie talken aber gleichzeitig mit Extrasendungen von Plasberg bis Illner die Erwartung herbei, dass nun aber täglich etwas Neues passieren muss. Kommt aber nicht. Wir müssen abwarten.
Die Steigerung von Illner und Plasberg ist Julian Reichelts Bild. Sie fordert einen „Nationalen Kraftakt gegen Corona“ und „sagt, was SOFORT (im Original) passieren muss.“
Es wundert bei Bild nicht, dass Bild als einen der zehn wichtigsten Punkte einen „Notfall-Plan für die Bundesliga“ nennt. Aber es wundert schon, dass sie ernsthaft fordert „Kanzlerin Merkel muss jeden Tag zum Volk sprechen“. Das würden nicht mal Grüne verlangen. Übrigens müsste dann Julian Reichelt jeden Tag einen Leitartikel gegen die Merkel-Ansprache vom Vortag schreiben.
Bei Bild es überrascht nicht, dass der Punkt „Gesundheit ‚Made in Germany‘“ mit einem Bild von Markus Söder garniert wird. Doch bei der wahnsinnig tagesaktuellen Forderung nach einem „Neuen Wirtschaftswunder“ wurde glatt das Bild von Christian Lindner vergessen.
Das ganz Gerede vom Sofort führt am Ende nur zu simulierten Handlungen, wie sich an der Debatte um den Mundschutz zeigt.
Der landläufige Mundschutz mindert die Gefahr andere anzustecken, aber schützt nicht vor Ansteckung. RKI und Weltgesundheitsorganisation sind skeptisch bis ablehnend, ob der Mundschutz nicht eher die Sorglosigkeit erhöht. Er könnte Kontaktsperre sowie Hygieneverhalten unterhöhlen. Außerdem fürchten sie zusätzliche Nachfrage für die knappe Ressource medizinischer Schutzmasken.
Alle Argumente in dieser Debatte sind bekannt. Egal welches Risiko man wie gewichtet – nichts davon ist neu.
Neu ist, dass eine Mundschutzpflicht eingeführt werden soll. Neu ist, dass Österreich den Mundschutz zum Einkaufen vorschreibt. Der gleiche Basti Kurz, der gerade noch ein allgemeines Burkaverbot forderte, verlangt nun, dass die Kunden beim Lidl so vermummt sein müssen, dass sie an der Uni Kiel nicht mehr in den Hörsaal kämen. Dort gilt an geöffneten Tagen nämlich ein Nikabverbot, wie es richtig heißen muss.
Bei so viel inszeniertem Ausnahmezustand kann Julian Reichelt nicht abseitsstehen. Politik im Modus des Ausnahmezustands muss Handlungen vorweisen. Egal was – Hauptsache es passiert etwas. Deshalb Mundschutzpflicht, selbst wenn es epidemiologisch nicht geboten ist. Das nervt.
Es geht nicht um die Frage, ob es vielleicht eine Frage der Kultur, Ausdruck des Respekts gegenüber anderen sein kann, eine Maske zu tragen. Es muss zur sanktionsbewehrten Pflicht werden. Das nervt.
Nicht nervig, sondern unerträglich sind dagegen auf der anderen Seite jene Wirtschaftslobbyisten, die kühl einen Wachstumseinbruch gegen ein Massensterben in den Pflegheimen, wie jetzt in Würzburg und Wolfsburg, abwägen.
Für sie gilt Si tacuisses, philosophus mansisses – auf Plattdeutsch: Einfach mal die Fresse halten.
Es gibt viel zu tun, warten wir es ab. Daran wird sich die Krisenresilienz Deutschlands erweisen.
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