Rede bei GfbV in Göttingen (c Johanna Fischotter)

Menschenrechte unter Druck

Das Scheitern von Abschottung, Abschreckung und Abschiebung

Rede bei der Jahresversammlung der Gesellschaft für bedrohte Völker am 14.10.2023

 

Sehr geehrte Düzen Tekkal,
Lieber Herr Burkhard Gauly,
Lieber Roman Kühn,
Liebe Freundinnen und Freunde,
meine Damen und Herren,

ich Danke für die Einladung. Ich bin ja nicht zum ersten Mal bei einer Jahreshauptversammlung der Gesellschaft für bedrohte Völker. Zuletzt sprach ich hier vor 13 Jahren.

1 Tilman Zülch

Besonders berührt hat mich Ihr Film über das Leben von Tilman Zülch. Tilman hat riesige Verdienste beim Kampf um die Menschenrechte gerade kleiner, oft vergessener, bedrohter Völker.
Doch Tilman war nicht nur ein Streiter für Menschenrechte. Er hat hier in Göttingen DIE GRÜNEN mitgegründet. Zur Kommunalwahl 1981 traten wir damals sogar mit zwei Listen an, Tilman bei der Grünen Liste Göttingen. Ich war bei der Alternativ Grünen Initiativen Liste. Beide waren wir aber GRÜNE.
Das war nicht ohne Konflikt – und Tilman konnte Konflikt.
Wir haben diesen Konflikt hinter uns gelassen. Vor 30 Jahren, im Jahr 1993, haben CDU und SPD das deutsche Grundrecht auf Asyl nicht abgeschafft, aber versucht, die Durchführung von Asylverfahren ans Ausland zu delegieren – an sogenannte „Sichere Drittstaaten“.
Wir erleben gerade das Scheitern dieser Politik – auch wenn einige Ministerpräsidenten meinen, in der Sackgasse noch mal richtig Vollgas geben zu müssen.
Damals stritten Tilman und ich zusammen für eine menschliche Flüchtlingspolitik – er bei der Gesellschaft für bedrohte Völker, ich als verantwortlicher niedersächsischer Landesminister.
Tilman Zülch war immer ein Kämpfer für Menschenrechte. Vor dieser Lebensleistung verneige ich mich.

2 Terror der Hamas

Während wir hier sprechen, spitzt sich die Lage in Israel und Palästina zu. Wir erleben die größte Welle des Terrors gegen Jüdinnen und Juden seit dem zweiten Weltkrieg. Der von der Hamas organisierte barbarische Mord an Kindern, Frauen wie Männern hat über 1300 Leben gekostet. Wir trauern um diese Menschen.
Wir fordern von der Hamas alle Geiseln ohne Vorbedingungen frei zu lassen.
Israel hat das Recht auf Selbstverteidigung – ja zum Schutz seiner Menschen auch die Pflicht zur Abschreckung.
Die bittere Wahrheit ist: Dies wird – auch wenn Israel sich bemüht, die Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts zu achten – viele Menschenleben kosten. Die Hamas hat nicht nur die Entführten, sondern 2 Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser in Gaza in Geiselhaft genommen.
Deutschland steht in dieser Situation fest an der Seite Israels – wie wir es gestern in einer einstimmigen Resolution des Bundestages gezeigt haben.
Die Hamas ist nicht Palästina – deshalb ist es wichtig, dass wir unsere humanitäre Hilfe für die Menschen, Essen, Wasser, die Schutzräume der UNWRA in Gaza, fortsetzen.
Aber wir erwarten von der Palästinensischen Autonomiebehörde, dass sie sich vom antisemitischen Terror der Hamas klar distanziert.
Richtig bleibt auch – und auch dies haben wir gemeinsam im Bundestag festgehalten:
Nachhaltige Sicherheit im Nahen Osten wird es nur in einer zwischen Israel und Palästina verhandelten Friedenslösung auf der Basis einer Zwei-Staaten-Lösung geben.

Militärische Siege allein reichen nicht.

3 Fluchtursachen

Die vom Terror der Hamas ausgelöste humanitäre Katastrophe ist nur das aktuellste Beispiel für die Bedrohung vieler Völker.

  • In Russlands Krieg in der Ukraine starben nicht nur 200.000 Menschen, Millionen wurden im Land und in die Nachbarstaaten vertrieben – 1 Million leben in Deutschland.
  • Noch mehr Menschen starben in Tigray im Krieg Äthiopiens
  • Im Kongo tobt seit 30 Jahren ein Krieg um Rohstoffe wie Diamanten und Coltan.
  • In Syrien ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung vertrieben worden, Assad mordet weiter, die Türkei vertreibt Kurden.
  • Kurden wie Belutschen werden im klerikal-faschistischen Iran noch einmal besonders unterdrückt. Mahsa Amini, die vor einem Jahr ermordet wurde, war Kurdin.
  • Der Sieg der Taliban in Afghanistan ist eine massive Bedrohung gerade für Frauen. Das konnte Annalena Baerbock mit der Aufnahme von inzwischen 30.000 Menschen in Deutschland mildern. Jetzt kommen die Folgen des Erdbebens dazu. Die Bundesregierung hat darauf mit mehr humanitärer Hilfe reagiert – trotz der Taliban.
  • Zuletzt hat Europa zugesehen, wie Aserbaidschan die armenische Minderheit in Berg-Karabach erst ausgehungert und dann vertrieben hat. Alle Versuche Deutschlands, hier eine härtere Haltung der Europäischen Union zu erreichen, scheiterte an der fehlenden Einstimmigkeit. Sie scheiterte an der Abhängigkeit einiger Mitgliedstaaten vom Gas aus Baku.

In einer Welt der Unordnung, der Ungleichheit und der Klimakrise wachsen Gewalt und Krieg.
Und während auf Ministerpräsidentenkonferenzen gerne die „Beseitigung der Fluchtursachen“ verspryochen wird, wachsen global die Fluchtursachen.

In einer solchen Welt braucht es Organisationen, die genau hinschauen. Die berichten was ist.
In einer solchen Welt braucht es die Gesellschaft für bedrohte Völker. Danke.

4 Menschenrechte

Menschenrechte sind keine westliche Erfindung, wie Russland und China gerne suggerieren. Sie sind die Grundlage der Vereinten Nationen. Alle Mitglieder der UN haben die Charta der Menschenrechte ratifiziert.
Menschenrechte sind universell.
Aber weil sie universell sind, gelten sie nicht nur dort, wo wir ihre Missachtung bei anderen einklagen. Sie gelten auch bei uns und für uns. Und für eine Europäische Union, die sich selbst Raum des Rechts siehts, allemal.
Wir wollen, dass Moldau und Serbien eine Perspektive in der EU haben? Dann können wir nicht akzeptieren, wenn Roma dort diskriminiert werden.
Aber Menschenrechte sollten nicht nur für Beitrittskandidaten gelten – auch für Mitglieder.

Es muss uns beschämen, wenn an unseren Grenzen Menschen aus Not zurück geprügelt werden. Wenn in diesem Jahr bis Oktober 2500 Menschen auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken sind – so viel wie im ganzen letzten Jahr.

Und es ist eine Schande, wenn nun gefordert wird, mehr Menschen ertrinken zu lassen. Nichts anderes bedeutet die Forderung der italienischen Regierung an den deutschen Bundestag, die einmütig beschlossene Unterstützung für Seenotretter zu streichen.

Das werden wir nicht machen.

Hier muss ich niemandem erzählen, wie die Verhältnisse in Eritrea, in Syrien, in Afghanistan oder der Türkei sind, aus denen Menschen fliehen. Davon lassen sie sich weder durch die Lebensgefahr auf den Booten abschrecken – und schon gar nicht durch Sachleistungen und das Versagen von Zahnbehandlung, wie es Friedrich Merz vorschlägt.

1993 wurde das Grundrecht auf Asyl aus Deutschland ausgebürgert. Das alles geschah im Flammenschein der Pogrome von Rostock-Lichtenhagen und der Toten von Solingen. Heute zeigt sich, das war nicht nur unmenschlich. Es hat nicht geholfen.
Deutschland ist immer noch Zielland für Flüchtlinge. Und der Rassismus ist stärker als jemals zuvor, ob in Hessen, Bayern oder Sachsen.
Der Konsens von 1993 soll heute wieder beschworen werden, fordern Ministerpräsidenten wie CDU und AfD.

Nach 20 Jahren Asylkompromiss bleibt eine bittere Wahrheit:
Abschotten, Abschrecken und Abschieben ist keine Migrationspolitik. Es ist gescheitert.

  • Abschotten: Die italienische Regierung ist angetreten, ihr Land abzuschotten. Die Zahl der Geflüchteten nach Italien hat sich seit Amtsantritt verdoppelt. Und auch ein schmutziges Abkommen von Ursula von der Leyen mit dem die Hamas-bejubelndem Präsidenten von Tunesien wird daran wenig ändern. Es wird nur Europas Schande vergrößern.
  • Abschrecken: Wer vor Fassbomben in Syrien, vor den Taliban in Afghanistan flieht, wird sich nicht von Sachleistungen abschrecken lassen. Das Einzige, was passiert: Menschen, die hier leben, werden stigmatisiert. Wir grenzen aus, wir produzieren Parallelgesellschaften. (Und Christian Lindner, der es bis heute nicht geschafft hat, das Klimageld an jeden Bürger auszuzahlen traut sich nun zu, in Wochenfrist ein Zahlsystem auf den Weg zu bringen. Wenn das so klappt wie beim Heizkostenzuschuss für Studierende, dürfte das bis zur Bundestagswahl dauern.)
  • Abschieben: Wenn die Hauptherkunftsländer Syrien, Afghanistan, Eritrea, Türkei Anerkennungsquoten zwischen 75 und 85 % haben, dann werden Abschiebungen nicht die Zahl der Geflüchteten mindern, selbst wenn man die wenigen Abzuschiebenden 28 statt 10 Tage vorher einknastet.
    Wer den Dreiklang von Abschotten, Abschrecken und Abschieben immer noch für Migrationspolitik hält,
  • der wird den Kommunen nicht helfen.
  • Er wird die Enttäuschung von Morgen produzieren.
  • Er wird Integrationsprobleme vergrößern.

Kurz gesagt: Er wird den Rassismus befördern.
Unsere Kommunen brauchen stattdessen mehr Geld, die Geflüchteten müssen schneller in Arbeit und Teilhabe kommen – und wir brauchen eine europäische Flüchtlingspolitik auf der Basis des Völkerrechts und mit einer solidarischen Lastenteilung.

5 Rassismus global

Rassismus aber, und das wissen Sie besser als ich, ist eine der größten globalen Bedrohungen für Minderheiten und kleine Völker.
Das gilt für den Antisemitismus der Hamas wie der alten und neuen Faschisten.
Blicken Sie auf die vom militanten Hindunationalismus bedrohten Christen, Muslime und andere Minderheiten.
Erinnern Sie sich an die Versklavung der Jesiden durch den IS.

Die Erinnerung prägt auch die heutige Jahreshauptversammlung von Ihnen. Dazu meinen Glückwunsch.

Deshalb freue ich mich jetzt auf das Grußwort von Düzen Tekkal.

Vielen Dank.

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