Existentielle Krise in Nahost
Der Terror der Hamas und die Chancen auf eine politische Lösung
Vom 13. bis zum 15. November 2023 besuchte ich Israel und Palästina. Im Mittelpunkt stand die Lage sechs Wochen nach dem Terroranschlag der Hamas auf Israel mit mehr als 1200 Toten und der ihm folgende Krieg in Gaza. Begleitet wurde ich von Dr. Carsten Wieland, Nahostreferent der Grünen-Bundestagsfraktion.
Zusammenfassung
- Der schlimmste Anschlag auf jüdisches Leben seit dem Holocaust ist eine Zäsur. Dass 1200 barbarischen Morde auf dem Gebiet des Staates Israel stattfinden konnten, hat das Selbstverständnis von Staat und Gesellschaft im Kern erschüttert und das Schutzvertrauen zerstört. Viele Menschen in Israel sehen sich in ihrer Existenz bedroht.
- Israel muss sein eigenes Abschreckungspotenzial wieder herstellen, will es die terroristische Bedrohung wirksam unterbinden. Dafür muss das militärische Potenzial der Hamas zerstört werden. Der Krieg im Gaza wird im Grundsatz von einem breiten Konsens in der Gesellschaft getragen – auch wenn es harte Kontroversen um die Art der Kriegsführung gibt.
- Der Krieg im Gaza-Streifen wiederum mit seinen – zum jetzigen Zeitpunkt – mehr als 11.000 überwiegend zivilen Toten – löst in der palästinensischen Bevölkerung existentielle Befürchtungen einer zweiten Nakba Verstärkt wird dies durch die Vertreibungsphantasien einzelner rechtsextremer Regierungsvertreter des Kabinetts Netanjahu. Die seit dem 07. Oktober stark eskalierende Gewalt durch jüdische Siedler und Soldaten in der Westbank, der bis heute rund 185 Palästinenser zum Opfer fielen, tut ein Übriges.
- Der Status Quo hat keine Zukunft. Das Scheitern des Sicherheitsversprechens des israelischen Staates gegenüber seiner Bevölkerung hat der Diskussion um eine Zwei-Staaten-Lösung neuen Auftrieb gegeben. Sie wurde von mehreren israelischen Regierungen, insbesondere von der Regierung Netanjahu aktiv hintertrieben und von Teilen der Opposition lange eher belächelt. Heute ist sie für die USA wie für Deutschland der Schlüssel für eine Nachkriegsordnung im Nahen Osten.
- Über Regierung und Opposition hinweg aber gibt es in Israel sehr unterschiedliche Vorstellungen für eine Nachkriegsordnung: Sie reichen von der Idee einer Vertreibung der Bevölkerung aus Gaza nach Ägypten oder als Flüchtlinge nach Europa über eine (Teil-) Besetzung nach dem Modell der Westbank mit arabischer/internationaler Beteiligung bis hin zu einer mit den Palästinensern verhandelten Vereinbarung.
- Die Diskussion über die Zwei-Staaten-Lösung stärkt die momentan eher schwache Palästinensische Autonomiebehörde (PA) und die sie tragende Fatah gegenüber der Hamas wie gegenüber den arabischen Staaten. Diese aber hat die Befürchtung, dass sie am Ende in dieser Haltung wieder alleine steht. „It’s walking, not talking“ (Ministerpräsident Mohammed Schtajeeh).
- Die No-Gos von US-Außenminister Blinken zu Gaza – keine Besetzung, keine Teilung, keine Separierung, keine Belagerung – werden vom Netanjahu-Lager nicht geteilt. Deutschland unterstützt den Ansatz Blinkens.
- Sowohl von der Regierung wie von der Opposition in Israel wurde die Haltung Deutschlands ausdrücklich gelobt. Deutschland wird als verlässlicher Partner gesehen. Dies gilt auch für seine Verhandlungserfolge in der Resolution der Generalversammlung (Verurteilung des Anschlags als „Terror“ , Forderung nach Freilassung aller Zivilisten). Kritik für die daraus folgende Enthaltung wurde von keinem Gesprächspartner geäußert.
- Deutschland hat nicht nur humanitäre Hilfe geleistet und mehr humanitäre Korridore gefordert. Außenministerin Annalena Baerbock hat sich für Kampfpausen, aber nicht für einen allgemeinen Waffenstillstand ausgesprochen. Ein allgemeiner Waffenstillstand ohne Freilassung der Entführten, solch eine Forderung wird auch von den Angehörigen abgelehnt.
- Die Minderung der Zahl ziviler Opfer im Gaza und mehr humanitäre Hilfe (Food, Medicine, Fuel) ist nicht nur ein Gebot der Menschlichkeit und des Völkerrechts. Es ist im Interesse Israels. Eine politische Lösung wird es nur mit den Palästinensern und mit arabischen Staaten wie Ägypten, Jordanien, den Emiraten und Saudi-Arabien geben. Dies darf durch die Art der Kriegsführung heute nicht gefährdet werden, gerade angesichts der gegenwärtig massiven öffentlichen Empörung in der arabischen Bevölkerung.
- Nicht gebannt ist zudem die Gefahr eines Zwei-Fronten-Krieges, sollte sich die Hizbullah im Norden mit Rückendeckung des Iran für eine Eskalation entscheiden.
- Bisher ist es der PA gelungen, mit ihren Sicherheitskräften trotz der Spannungen und Provokationen der Siedler die Westbank ruhig zu halten – weiterhin operativ in enger Kooperation mit der israelischen Seite. Umso widersinniger ist es, dass der rechtsextreme Finanzminister Smotrich die Steuereinnahmen der PA und damit die Möglichkeit, den Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes ihre Gehälter auszuzahlen, weiter blockieren will.
Israel
Netanjahu hat seine Wahlen mit dem Versprechen gewonnen, Sicherheit zu liefern. Auch Benny Gantz stand als ehemaliger Militär für Sicherheit. Das Sicherheitsversprechen, wonach es keiner politischen Lösung bedürfe, da die Armee und der Geheimdienst den Status Quo im Griff hätten, ist am 7. Oktober dramatisch gescheitert.
Teile der israelischen Gesellschaft – auch die säkulare Oppositionspartei Meretz – werfen der Regierung vor, dass ihre Politik der graduellen Annexion der besetzten Westbank, die immer rücksichtsloseren und tödlicheren Razzien sowie die quasi Straffreiheit von Siedlergewalt den Terror der Hamas begünstigt habe. Sie verurteilen eine völlig fehlgeleitete Priorisierung der Sicherheitslage durch die Regierung. Sie verweisen darauf, dass zur Zeit des Hamas-Angriffs ganze 2 Brigaden im israelischen Kernland im Süden präsent gewesen wären, um ihre Bürger zu schützen, während 32 Brigaden zur Unterstützung ebenso militanter wie illegaler Siedler in der Westbank gebunden gewesen seien. Zudem hätten die Minister Smotrich und Ben Gvir über 20.000 Schnellfeuergewehre an die ohnehin häufig bewaffneten Siedler verteilt, die im Süden gefehlt hätten.
Ausgeblieben ist trotz allem ein von den extremen Rechten in Israels Regierung vorhergesagter Aufstand aller Palästinenser und der arabischen Israelis. Im Gegenteil hat sich die Identifikation mit Israel unter arabischen Israelis nach dem 7. Oktober laut einer Umfrage von 48 % auf 70 % erhöht.
Umgekehrt verbreitet Netanjahu, dass die monatelangen massiven Demonstrationen gegen den von der Regierung geplanten Justizumbau die Hamas ermuntert hätten. Tatsächlich waren aber Gegner des politischen Projekts der bisher rechtesten israelischen Regierung die ersten, die nach dem Überfall zu ihren Waffen griffen und in den Süden eilten, um Israel und ihre Mitbürger zu verteidigen.
Sie sind es auch, die heute in einer breiten Allianz für die Freilassung aller Geiseln kämpfen. Die Bewegung von Familienangehörigen (#BringThemHomeNow) fordert in bewundernswerter Tapferkeit die Freilassung aller Geiseln als oberste Priorität.
Es hat Deutschlands Ansehen sehr gestärkt, dass Steffen Seibert der erste Botschafter war, der sich mit den Angehörigen zusammengesetzt hat. Es gibt hohe Erwartungen an Deutschland, seinen Einfluss zu nutzen, um nicht nur seine (gut 20) Staatsbürger zu befreien. Die Reise von Annalena Baerbock am 10. und 11. November nach Saudi-Arabien, die Emirate und Qatar wurde ausdrücklich gelobt.
Gerade vor der Dramatik von über 200 Geiseln – darunter Kleinstkinder, Friedensaktivisten und Holocaustüberlebende – hat die Militäroperation im Gaza breite Unterstützung über alle politischen Lager hinweg. „Dismantle the Hamas“ ist Konsens. Bis das vollbracht ist, werden alle politischen Fragen nach der Verantwortung für diesen in der Geschichte Israels beispiellosen Terrorakt zurückgestellt – obwohl sich gerade unter den Angehörigen die Kritik an Netanjahu zuspitzt. Das drückte sich unter anderem im Marsch nach Jerusalem aus, der am darauffolgenden Wochenende stattfand.
Solange der Krieg währt, ist Benjamin Nethanjahu im Amt des Ministerpräsidenten sicher. Danach, so lautet ein weiterer Konsens, werden alle Verantwortlichen Rechenschaft ablegen müssen. Zuerst Netanjahu. Manche sprechen deshalb von ihm als „Walking Dead“. Andere verweisen auf seine vielfach bewiesenen Überlebenskünste.
So sehr ein Sieg über die Hamas und die Befreiung der Geiseln als Kriegsziele Konsens sind, so offen ist die Frage, was darauf folgen soll. Die rassistischen Überlegungen einer ethnischen Säuberung im Gaza und einer Annexion der Westbank, wie sie der nationalreligiöse Teil der Regierung propagiert, wird in Gaza auch am Widerstand der Ägypter und der Weigerung der Palästinenser, sich vertreiben zu lassen, scheitern.
Umgekehrt werden die Überlegungen der USA und Deutschlands für eine Zwei-Staaten-Lösung auch vom Likud eher als ferne Zukunft gesehen. Hier wie bei der oppositionellen Yesh Atid kreisen die konkreten Gedanken eher um eine Interimslösung, einem neuen Status Quo Ante.
Einige der Vorstellungen im Regierungs- aber auch im zentristischen Oppositionslager gehen in die Richtung, dass die Grenze – auf dem Gebiet von Gaza – international überwacht werden soll. Gaza erhielte eine zivile Verwaltung aus der PA. Israel aber behielte sich das Recht vor, jederzeit und an jedem Ort in Gaza militärisch zu intervenieren – ein Modell Westbank ergänzt um internationale Beobachter. Unklar ist hier, welche Staaten überhaupt bereit wären, sich hieran zu beteiligen. Die PA hat dem Modell schon eine Absage erteilt.
Für die hohe Zahl ziviler Opfer im Gaza machen die meisten Israelis die Hamas verantwortlich. Sie sei es, die militärische Einrichtung neben und unter Krankenhäuser platziere und Menschen als Schutzschilde missbrauche. Das verstoße gegen das Völkerrecht. Das gilt im Übrigen auch für das wahllose Beschießen Israels mit Raketen, was damit klar unvereinbar ist.
In Israel gibt es heute über 150.000 Displaced Persons. Israel musste nicht nur Menschen aus dem Süden in Sicherheit bringen, sondern hat auch einen 40 km breiten Streifen an der Nordgrenze zum Libanon evakuiert, da Angriffe der Hizbullah zu befürchten sind. Viele dieser Vertriebenen, darunter zahllose Kinder, wurden zunächst in Hotels untergebracht – wie wir selbst in Tel Aviv erleben konnten. Einzelne Stimmen sagen, dass sich so Israels bewohnbares Staatsgebiet de-facto verkleinert hat. All diese Kriegsfolgen zehren zudem an Israels Wirtschaftsleistung.
Ob es gelingt, dass die Menschen in ihre Orte zurückkehren können und wollen, wird sehr stark davon abhängen, ob es der Regierung gelingt, ihr Sicherheitsversprechen glaubhaft wiederherzustellen und eine Eskalation des Krieges zu vermeiden. Auch deshalb ist ein über humanitäre Pausen hinausgehender Waffenstillstand ohne Freilassung von Geiseln aktuell unwahrscheinlich.
Weil dieser Druck hoch ist, wird es ohne eine entscheidende Schwächung der Hamas keinen Waffenstillstand geben. Wie lange dieser Kampf dauert, ob er sich nach Wochen oder Monaten bemisst, ist offen.
Weil aber den Binnenflüchtlingen eine Perspektive zur Rückkehr gegeben werden muss, darf es nicht zu einer Eskalation kommen und muss es eine Perspektive für eine politische Lösung geben. Aus diesem Grund darf Israel nicht den Gesprächsfaden mit den arabischen Nachbarn und (potenziellen) Partnern verlieren. Deshalb ist die Regierung gut beraten, ihre Politik der Annexion in der Westbank und der Blockade und Delegitimierung der PA zu beenden.
Dazu gehören auch – soweit das möglich ist – eine die Zivilbevölkerung stärker schützende Kriegsführung in Gaza, mehr humanitäre Korridore und auch humanitäre Kampfpausen. Das war die Botschaft von Annalena Baerbock bei ihrem Besuch.
In Israel selber sind die Folgen des Terrors vom 7. Oktober noch gar nicht abzuschätzen. Die Verunsicherung und Angst sitzen sehr tief. Selbst in Kreisen, die immer auf Versöhnung setzten, ist heute Separation von Palästinensern die realistischere Option statt eines Zusammenlebens in anderen Staatskonstruktionen. Dies wird dadurch unterstrichen, dass wohl unter den 20.000 Arbeitspendlern aus dem Gaza-Streifen in das südliche Israel es etliche gegeben haben soll, die für die Hamas die Kibuzzim und ihre Sicherheitslage, inklusive Codes zu den Schutzräumen, ausspioniert haben.
Palästina
Die Schwächung der Hamas ist durchaus im Interesse der PA, die sie lange bekämpft hat und als politische Konkurrenz begreift. Gelingt sie, dürfte das auch im Interesse der Emirate, der Saudis, Jordaniens und Ägyptens sein.
Nachdem es drei Tage zuvor zwischen Ministerpräsident Shtayyeh und Annalen Baerbock eine sehr kontroverse Debatte zu den Opfern in Israel gegeben hatte, unterstrich dieser nun sehr deutlich, dass die „atrocities“ und „the killing of 1200 people“ ein Trauma für die Gesellschaft Israels ausgelöst habe. Er warne aber vor dem Geist der Rache und fürchtete eine erneute „Nakba“.
Aktuell vollzieht sich in der Bevölkerung der arabischen Welt ein Prozess der Solidarisierung angesichts der Bilder aus Gaza. Würde in Palästina gewählt, wäre eine Mehrheit für die Hamas wahrscheinlich.
Von Protesten gegen den Krieg blieb auch Deutschland nicht verschont. Wegen seiner Unterstützung für Israel gab es Proteste gegen die deutsche Vertretung in Ramallah. Vom Goethe-Institut bis zur deutschen Vertretung wurde eine rote Blutspur gemalt. Langjährige Partner der Heinrich-Böll-Stiftung wollten nicht, dass ihr Gespräch mit uns bekannt wurde.
Wo in der arabischen Welt der Terror der Hamas nicht gebilligt wird, wird er verschwiegen. Die Verantwortung für die Toten im Gaza wird ausschließlich Israel zugewiesen. Es scheint, als habe Israel den globalen Kampf der Bilder um die öffentliche Meinung verloren.
In der Tat sind mehr als 11.000 Tote erschreckend. Es handelt sich hierbei um Zahlen der Palästinensischen Administration. Sie liegen nah bei denen der Hamas-Verwaltung. Sie beruhen auf den in den Krankenhäusern von Gaza eingelieferten Leichen und wurden durch Mitarbeiter der PA an das Gesundheitsministerium der PA in Ramallah gemeldet. Diese Zahlen enthalten nicht die wohl unzähligen Toten, die noch unter den Trümmern der zerstörten Häuser vermutet werden. Die PA-Gesundheitsministerin Kaila äußerte daher die Vermutung, dass die eigentliche Zahl wohl bei 20.000 liegen könnte.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es die Hamas mit ihren Kriegsverbrechen darauf anlegt, die Zahl der Opfer in der Bevölkerung massiv zu erhöhen. Das Beschießen ziviler Ziele in Israel aus einer zivilen Umgebung in Gaza ist ein doppeltes Kriegsverbrechen.
Israel hat durchaus Bemühungen erkennen lassen durch SMS, Anrufe und Flugblätter, die Zivilbevölkerung zu warnen und ihnen durch einen geschützten Korridor das Verlassen des Kampfgebiets in den Süden zu ermöglichen. Doch dass mittlerweile über 1,5 Millionen in den Süden vertrieben wurden, hat dort massive Unterbringungs- und Versorgungsprobleme ausgelöst. Zudem ist auch der Süden keine Safe Zone und keinesfalls vor Luftangriffen sicher.
Gerade wenn wir davon ausgehen müssen, dass der Krieg noch Wochen, wenn nicht Monate dauert, ist die Forderung von mehr humanitärer Hilfe, inklusive Treibstoff für Krankenhäuser und Entsalzungsanlagen, wie die Möglichkeit humanitärer Kampfpausen drängend. Nach Angaben der UNWRA – wir sprachen mit dem Gaza-Director Thomas White per Video – braucht es mehr als einen Grenzübergang und im Schnitt 500 LKWs am Tag, um die 1,5 Millionen zu versorgen. Es bedarf zudem tatsächlich sicherer Zonen. (Mittlerweile sind – auf Drängen Deutschlands und der USA – Treibstofflieferungen an UNWRA im begrenzten Umfang wieder möglich.)
Die Opfer und die humanitäre Katastrophe im Gaza-Streifen haben in Palästina viel Protest mobilisiert. Dass er in der Westbank nicht stärker eskalierte, ist auch ein Verdienst der Sicherheitskräfte der PA und deren Kooperationswillen mit der israelischen Seite. Es ist umso erstaunlicher, als in der Westbank die Gewalt durch Siedler und Soldaten deutlich zunimmt.
So sehen die Nationalreligiösen den 7. Oktober als Chance, ihre Siedlungs- und Vertreibungspolitik in der Westbank zu eskalieren. So wurden in mehreren Dörfern Beduinen vertrieben. Die Bewegungsfreiheit in der Westbank ist extrem eingeschränkt. Sie wird mit willkürlichen und wilden Checkpoints von Siedlern, die teilweise in Militäruniform auftreten, weiter beschränkt. In den A-Gebieten – wo die PA, nicht die IDF für die Sicherheit zuständig ist – führt die Armee massiert Razzien durch. 185 tote Palästinenser alleine in einem Monat sind die Folge (es waren 121 im gesamten Jahr 2022, und sind insgesamt 430 in 2023 bis heute laut UNWRA-Statistiken). Mindestens 9 Menschen, darunter ein Kind, wurden von Siedlern ermordet. Faktisch herrscht für gewalttätige Siedler Straflosigkeit.
Hinzukommt, dass seit dem 7. Oktober 2500 Menschen in Administrativhaft – also Haft ohne Begründung – genommen wurden. Die Gefängnisse sind überfüllt.
200.000 Bewohner der Westbank haben ihren Arbeitsplatz verloren, da Israel sie seit dem 7. Oktober nicht mehr einreisen lässt. Das macht ungefähr 20 % des Bruttosozialprodukts der besetzten Gebiete aus und trifft auch die israelische Wirtschaft. Verschärft wird die Krise in der Westbank noch dadurch, dass Finanzminister Smotrich die Weiterleitung großer Teile der Steuereinnahmen der PA großenteils blockiert. Die PA wird bald keine Gehälter mehr zahlen können – auch nicht an die Polizisten, die in den A-Gebieten gegen Hamas und andere für Sicherheit sorgen sollen.
Während offensichtlich ist, dass das alte Sicherheitskonzept am 7. Oktober auf fatale Weise zusammenbrach, tut die Regierung Netanjahu nach wie vor alles, um die PA zu schwächen und zu delegitimieren. Die nationalreligiösen Kräfte der Koalition gar eskalieren ihre Politik der Annexion. Dies wird eine politische Verständigung über eine Nachkriegsordnung sehr erschweren.
Es ist richtig, dass die demokratische Legitimität der PA 16 Jahre nach den letzten Wahlen aufgebraucht ist. Wahr ist auch, dass ihr Ansehen in der Bevölkerung durch massive Korruption einer Reihe von Funktionsträgern und Beschneidung von Bürgerrechten gelitten hat. Dennoch führt bei einer politischen Lösung kein Weg an der PA vorbei.
Dies gilt nicht nur, weil die Alternative zur PA in Palästina momentan nur die Hamas ist. Es gilt auch für die Zusammenarbeit zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn in der Region. Bis zum 7. Oktober glaubte die Regierung Netanjahu, es reiche eine der besten Armeen und Geheimdienste zu haben. Gegen die Bedrohung aus dem Iran und seine Proxys würden die Abrahams Accords genügen, und für die Spaltung der Palästinenser könne man auch die Finanzierung der Hamas durch Qatar dulden. Diese Fehleinschätzung, besonders bezüglich der Hamas, hat auf fatale Weise dazu beigetragen, dass dieser Terroranschlag möglich wurde.
Mit dem Krieg in Gaza und seinen vielen Opfern wird es aber den Saudis, den Emiraten und anderen sehr viel schwerer fallen, die Vereinbarungen mit Israel mit Leben zu füllen oder zu diesen zurückzukehren. Für eine politische Lösung im Nahen Osten aber bedarf es dieser Vereinbarungen plus eines Friedensprozesses mit den Palästinensern, welchen die Abraham Accords bisher ausgeklammert haben. Den Prozess der Verständigung mit Israel zu stören oder gar zu stoppen, dürfte das sein, was den Iran am meisten am Terror der Hamas erfreut.
Auch deshalb sollte die Politik der fortgesetzten völkerrechtswidrigen Besatzung und der in Teilen der Regierung angestrebten Annexion des Westjordanlands und der Delegitimierung der PA beendet werden. Das Drängen von Präsident Biden, Außenminister Blinken wie von Annalena Baerbock auf eine Zwei-Staaten-Lösung, wie sie der Bundestag einstimmig gefordert hat, ist mehr als berechtigt.
Das demokratische Israel als Heimstatt der Jüdinnen und Juden der Welt muss in Sicherheit leben können. Zwischen dem Jordan und dem Meer leben fast 10 Millionen Israelis und über 5 Millionen Palästinenser. Sie sind jüdischen, muslimischen und christlichen Glaubens, oder es sind Menschen, die nicht an den einen Gott dieser Religionen glauben. Diese Menschen werden auch künftig dort leben. Nachhaltige Sicherheit und eine lebenswerte Zukunft werden sie nur in einer verhandelten Vereinbarung auf der Basis der Zwei-Staaten-Lösung finden.
Gesprächspartner*innen
Ich möchte mich ausdrücklich bedanken bei Botschafter Steffen Seibert in Tel Aviv und dem Team der Deutschen Vertretung in Ramallah um den Gesandten Oliver Owcza und Dr. Anne-Sophie Beckedorf sowie bei der Heinrich-Böll-Stiftung Ramallah. Dass trotz der krisenbedingten Belastung eine solche Reise möglich war, ist keine Selbstverständlichkeit.
Israel
- Amir Fuchs, Israel Democracy Institute (IDI)
- Verschiedene ehem. Botschafter Israels mit Angehörigen der entführten Geiseln im Family Forum Tel Aviv
- Merav Svrirsky, Angehörige einer Geisel mit deutscher Staatsbürgerschaft
- MK Ahmad Tibi (Hadash-Ta’al)
- MK Yorai Lahav Hertzanu (Yesh Atid)
- MK Dan Illouz (Likud)
- Daniel Meron, Abteilungsleiter Europa im Israelischen Außenministerium
- Yoni Eshpar, Director for Europe and International Organizations, Nationaler Sicherheitsrat
- Mossi Raz (Meretz)
- Jeremy Issacharoff, ehemaliger Botschafter Israels in Deutschland
Palästina
- Roland Friedrich (Deputy Director of UNRWA West Bank Field Office)
- Megan Swoger (UNRWA Associate Donor Relations Officer)
- Thomas White, UNWRA-Direktor Gaza
- Ivan Karakashian (Advocacy Manager at the Norwegian Refugee Council)
- Mohammed Shtayyeh, Premierminister PA
- Mai Kaila, Gesundheitsministerin PA
- Mitarbeitende und Partner der Heinrich-Böll-Stiftung, Büro Ramallah
- Danny Seidemann, Rechtsanwalt, Mediator, Jerusalem Peace Institute
- Sari Nouseibah, palästinensischer Philosoph und Politiker, ehem. Präsident der Al-Quds Universität in Jerusalem
Der Reisebericht im pdf-Format zum Download: Reisebericht_Juergen Trittin_ISR-PAL
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