Ein Jahr nach dem furchtbaren Terrorüberfall durch die Hamas hat der vor seiner Auflösung stehende 20. Deutsche Bundestag eine Resolution verabschiedet, in der er verspricht, das jüdische Leben in Deutschland zu schützen, zu bewahren und zu stärken.
Die Rückkehr jüdischen Lebens nach der Shoah ist ein großes Glück für Deutschland. Dieses ist angesichts eines sprunghaften Anstiegs antisemitischer Vorfälle in den Straßen, U-Bahnen und Universitäten massiv in Gefahr. Der Beschluss ist Ausdruck der Pflicht, „die Vielfalt jüdischen Lebens anzuerkennen, sichtbar zu machen, zu bewahren und zu schützen“.
Gemessen am diesem Anspruch fallen die konkreten Maßnahmen merkwürdig unbestimmt aus. Zwar spricht der Antrag Strafbarkeitslücken an – benennt aber nicht, welche er wie schließen möchte. Es gibt auch kein Millionenprogramm im Demokratiefördergesetz, das sich der Herausforderung durch einen wachsenden Antisemitismus unter Zuwanderern widmet. Es fehlt jede Selbstreflexion über jenen gut bürgerlichen Antisemitismus, der über eine „Verschwörung der Globalisten“ raunt, wie es der langjährige Verfassungsschutzchef Hans Georg Maaßen tat.
Nur in zwei Punkten wird der Antrag konkret. Er möchte nicht, dass Organisationen und Projekte gefördert werden, „die die BDS-Bewegung aktiv unterstützen“. Dafür wird noch einmal der Anti-BDS-Beschluss des Bundestages von 2019 bekräftigt. Die Bundesregierung soll diesen Beschluss in der Umsetzung sogar„verstärken“. Diesem Beschluss von 2019 haben damals neben mir 15 Abgeordnete meiner Fraktion aus guten Gründen nicht zugestimmt (https://www.trittin.de/2019/05/17/bds-entgegentreten/).
Zum anderen wird soll die „IHRA-Arbeitsdefinition … politisch bekräftigt“ werden. Die Bundesregierung soll sich dafür einsetzen, dass Länder und Kommunen diese Definition als maßgeblich für Förderzusagen heranziehen.
Das grenzt an die Aufforderung zum Rechtsungehorsam. Die Arbeitsdefintion der International Holocaust Remembrance Alliance ist eine wissenschaftliche Meinung. Sie steht neben mehreren anderen wissenschaftlichen Meinungen wie zum Beispiel der „Jerusalem Declaration“. Sie ist in der Wissenschaft und zwischen Akteuren umstritten. Eine Meinung aufgrund einer ‚politischen Bekräftigung‘ durch den Bundestag zur Grundlage von Raumverboten und Förderbescheiden zu machen, ist verfassungswidrig. Meinungen können nicht die Begrenzung der Meinungsfreiheit begründen. Hierzu bedürfte es eines verfassungskonformen Gesetzes. Die Autoren des Beschlusses wussten das.
„Ein Nutzungsausschluss von BDS-nahen Personen oder Gruppen allein wegen zu erwartender unerwünschter Meinungsäußerungen ist daher mit Art. 5 Abs. 1 GG unvereinbar“ – so der eigene wissenschaftliche Dienst des Bundestages. Dessen Rechtsauffassung hat sich in der Rechtssprechung etwa des bayerischen Verwaltungsgerichtshofs niedergeschlagen.
Wenn dennoch so etwas beschlossen wird, wirft es ein bezeichnendes Licht auf die Protagonisten dieses neuen Beschlusses. Sie liefern ihr Anwendungsbeispiel für IHRA-Arbeitsdefinition gleich mit. Sie sprechen von „den großen Antisemitismusskandalen der letzten Jahre“. Da geht es nicht um die Aiwanger-Brüder oder Maaßen, sondern unter anderem um die „Berlinale im Februar 2024“.
Dort hatte auf der Preisverleihung ein israelischer Regisseur angesichts der Situation, in die sein palästinensischer Coregisseur nun zurückkehren musste gesagt: „Diese Situation der Apartheid zwischen uns, diese Ungleichheit muss ein Ende haben.“ Der palästinensische Regisseur hatte ein Ende der Waffenlieferungen an Israel gefordert. Ein dritter Preisträger sprach von einem „Genozid“ in Gaza. Ein Teilnehmer hielt ein Schild hoch mit der Forderung nach einem Waffenstillstand. Das muss man nicht teilen, man kann eine andere Meinung haben oder kann es scharf kritisieren. Aber antisemitisch ist das alles nicht.
Weite Teile der demokratischen Opposition in Israel, Parteien wie Zivilgesellschaft, ja ein ehemaliger Generalstaatsanwalt beschreiben die Lage in den völkerrechtswidrig (so der Internationale Gerichtshof) besetzten Gebieten als „Apartheid“. In Israel demonstrieren Hunderttausende für einen Waffenstillstand. Dieser wird von einer riesigen Mehrheit von Staaten in den VN unterstützt. Der Internationale Gerichtshof hat die ‚Genozid‘-Klage Südafrikas gegen Israel nicht entschieden, aber zur Vermeidung eines Genozids Israel auferlegt, Schutzmaßnahmen zu ergreifen und mehr humanitäre Hilfe zulassen.
Das alles ist der „Berliner Antisemitismusskandal vom Februar 2024“? Man fasst es nicht.
Antisemitismus ist keine Meinung. Antisemitismus ist die Shoa, es ist das Massaker vom 7. Oktober, sind die Schüsse auf die Synagoge von Halle, sind die unfassbaren Szenen in dieser Tage in Amsterdam. Es ist Antisemitismus, wenn in Berlin, ob in Neukölln oder an der FU, Jüdinnen und Juden bedroht, bedrängt und geschlagen werden. Sie werden wegen ihres Glaubens in Haftung für das Handeln der Regierung Israels genommen. Das ist israelbezogener Antisemitismus.
Aber der Kampf gegen den Antisemitismus gebietet, präzise zu unterscheiden, zwischen Antisemitismus und Kritik an einer Regierung wie der Netanjahus.
Anders als viele Antisemiten in ihrem Raunen suggerieren, ist es gar nicht schwer zwischen Antisemitismus und der Kritik an einer Regierung zu unterscheiden. Die Behauptung, „die Juden“ wollten zwischen dem Fluss und dem Meer keine Muslime, ist eine antisemitische Lüge. Die Aussage, „wenn es nach ethnischer Vertreibung aussieht, dann ist es ethnische Vertreibung“ – so die Haaretz zur Kriegsführung in Nordgaza – dagegen ist ein scharfe Kritik an Netanjahu.
Dessen Regierung ist verantwortlich für die völkerrechtswidrige Besetzung der Westbank wie für die Kriegsführung im Gaza mit Tausenden zivilen Opfern. Weite Teile der Opposition in Israel werfen Netanjahu vor, das Massaker vom 07. Oktober durch seine stillen Arrangements mit der Hamas via Qatar mit ermöglicht zu haben. Der Bundestag setzt gleich im ersten Anwendungsbeispiel legitime Kritik an der Regierung des Staates Israel mit Antisemitismus gleich. In dem solche Meinungen als antisemitisch ausgegrenzt werden, wird Antisemitismus zur Meinung – einer ziemlich beliebigen. Wenn alles antisemitisch ist, ist nichts mehr antisemitisch. Antisemitismus wird so relativiert, ja verharmlost.