65 Prozent der deutschen Wirtschaftselite konnten in Umfragen einer erneuten Präsidentschaft des Donald Trump noch etwas Gutes abgewinnen. Unter Trump aber vollzieht sich mit abenteuerlicher Geschwindigkeit ein Systemwechsel. Trumps Disruption hat begonnen, in seinem Kernland den demokratischen Kapitalismus durch einen autoritären Oligarchismus zu ersetzen. Die Aufteilung der Welt mit Russland schreitet von Deal zu Deal voran. Die transatlantische Freundschaft ist aufgekündigt. Wir erleben das Ende des alten Westens. Europa ist in Not. Es ist Zeit zu handeln. Deutschland ist in einer Haushaltsnotlage. Es kann sich nicht länger davor drücken, seine Schuldenbremse grundlegend zu reformieren.
Das Ende des alten Westen
Viele Linke meiner Generation wurden von rechts gerne mit dem Vorwurf des Antiamerikanismus überzogen. Wir protestierten gegen den Krieg in Vietnam, kritisierten die US gestützten Militärdiktaturen in Chile, Argentinien oder Brasilien, ihre verdeckten und offenen Angriffskriege von Nicaragua bis zum Irak. Das Pochen auf universelle Werte, auf Menschenrechte und Völkerrecht ist kein Antiamerikanismus.
Keiner von uns aber wäre auf die Idee gekommen, den USA das vorzuwerfen, was unter Trump wahr wurde. Trump droht im Rahmen seiner Vereidigung nicht nur mit der Verletzung der Souveränität von Kanada, Panama und Dänemark. Für den Gazastreifen strebt er die Vertreibung der dort beheimateten Palästinenser an – eine ethnische Säuberung umschrieben als „Riviera des Nahen Ostens“. Leni Riefenstahl lässt grüßen.
Sein Vize JD Vance hält auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine AfD-Rede, wonach die Bedrohung der Sicherheit nicht von China oder Russland ausgehe, sondern von der Regulierung von Plattformen des siegheilenden Elon Musk. Trump erklärt, die Europäische Union sei gegründet worden, „to screw the US“.
Trump tituliert den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj als „Diktator“, der den Krieg in der Ukraine seit drei Jahren hätte beenden können. Die bizarre Täter-Opfer-Umkehr war kein Ausrutscher. Zum dritten Jahrestag des Überfalls Putins auf die Ukraine stimmen in der UN-Generalsversammlung die USA zusammen mit dem Nordkorea des Kim Jong-Un und dem Folterregime Eritrea gegen Europa und eine breite Mehrheit der Staaten. Am Ende warf Trump Selenskyj vor laufender Kamera aus dem Weißen Haus, weil dieser im Gegenzug zur Auslieferung der ukrainischen Bodenschätze an US-Unternehmen Sicherheitsgarantien erbat. „You are fired“ hieß das einst in Trumps Fernsehformat „The Apprentice“
Der alte Westen ist tot. Das gegenseitige transatlantische Sicherheitsversprechen gilt nicht mehr. Europa ist auf sich gestellt. Es muss sich selbst um die eigene Sicherheit kümmern – und die Ukraine ist ein Teil Europas.
In den 1980er Jahren hieß es zur Linken gerne „Raus aus der NATO – rein ins Vergnügen“. Der faktische Ausstieg der USA aus dem transatlantischen Verteidigungsbündnis wird kein Vergnügen. „To keep the Russians out, to keep the Germans down, to keep the Americans in“ – das alte NATO Motto – war einmal. Von Deutschland wird in Europa Führung erwartet. Und das schnell.
Europa in Not
Es wird teuer werden. Ob Europa 500 Milliarden oder mehr aufbringen muss, ob das 3,5 oder 5 Prozent des BIP kosten wird, ist offen. Es ist offensichtlich eine „außergewöhnliche Notsituation“, „die sich der Kontrolle des Staates entzieht und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigt“, wie es im Grundgesetz Artikel 115(2) heißt. Es reicht nicht, die 3 Milliarden Ukraine-Hilfe jetzt frei zu geben. Deutschland ist in einer Haushaltsnotlage.
Diese im Bundestag zu erklären, wird nicht reichen. Es geht nicht nur um mehr Geld für Rüstung und mehr Hilfe für die Ukraine. Es geht um den Aufbau einer europäischen Rüstungsindustrie für Flugabwehr, Drohnen und Aufklärung. Die Praxis, dass 80 Prozent der europäischen Rüstungsausgaben in den Auftragsbüchern von US-Konzernen landen, muss beendet werden.
Europäische Souveränität beruht besonders auf ökonomischer Resilienz. Europa muss strategische Industrien in Europa halten oder auch zurückholen. Es muss bei Künstlicher Intelligenz, Cloud-Computing seinen Rückstand aufholen. Das erfordert Investitionen zum Erhalt und der Ausbau der Infrastruktur samt deren Stromleitungen, Schienen und Autobahnen. Wir brauchen europäische Investitionsfonds.
Putin und Trump wollen Deutschlands über eine Wiederinbetriebnahme von NordStream wieder in Abhängigkeit von russischem Gas zu bringen – nur dass diesmal zwei Autokraten am Gashahn sitzen sollen. Das gilt es zu durchkreuzen. Deshalb muss die Dekarbonisierung nicht gebremst, sondern beschleunigt werden. Wir müssen schneller auf E-Mobilität umsteigen, zügiger aus Kohlestrom und Gasheizungen aussteigen. In die Verringerung unserer Importabhängigkeit durch beschleunigte Energiewende muss verstärkt investiert werden.
Reform der Schuldenbremse statt Sondervermögen
Das alles geht nicht mit einer Politik der Austerität. Ihren Geist aber atmet die deutsche Schuldenbremse. Wir können und müssen sie kurzfristig in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz aussetzen. Deshalb gibt es keinen Zeitdruck – auch wenn die Erklärung einer Haushaltsnotlage für eine neue Regierung unschön ist. Wird so doch offensichtlich, dass die von Merz geforderten Steuersenkungen für Besserverdienende durch nichts gedeckt sind.
Aber die deutsche Schuldenbremse muss umfassend reformiert und den neuen Herausforderungen angepasst werden. Hierzu gehört auch eine neue Definition des Investitionsbegriffs. Das bedarf der Sorgfalt.
Für eine solche Reform gibt es auch im neuen Bundestag eine verfassungsändernde Mehrheit – mit der Linken. Davor scheut sich die Union. Doch wer jetzt den scheinbar einfachen Weg in neue Sondervermögen sucht, wird damit den Druck auf eine umfassende Reform der Finanzpolitik in Zeiten der Disruption wegnehmen. Er wird die Vorlage liefern, zunächst alles in Frage zu stellen, vom Elterngeld über das Bürgergeld bis zur Rente, bevor über eine Reform der Schuldenbremse von der Union auch nur geredet wird. Das wird den Zusammenhalt in Gesellschaft massiv infrage stellen.
Gesellschaft zu spalten, statt zu einen, wird den Herausforderungen aus dem Zerfall des alten Westens nicht gerecht.