Progressiv europäisch

Europa und die Rückkehr des Nationalismus

  1. Vertiefen und/oder erweitern – so lautete über Jahre der Streit zwischen den relevanten Parteien in Europa. Dieser Streit ist obsolet. Heute stellt sich die Frage, um wie viel sich die Europäische Union verkleinert. Und es stellt sich die Frage, welche Integrationsschritte zurück genommen Hier steht insbesondere die Freizügigkeit für Menschen – und an der deutsch-dänischen Grenze nun auch für Wildschweine – zur Disposition. Es gibt wieder Binnengrenzen im Schengenraum.
  2. Europa steht massiv unter dem Druck eines wachsenden Nationalismus. Dieser Nationalismus vertieft die Spaltungen in den europäischen Gesellschaften. Auch wenn diese Spaltungen politische, soziale, ökonomische und geografische haben, lassen sie sich doch auf einen gemeinsamen Ausgangspunkt zurückführen – die Finanzkrise von 2008.
  3. Die Bewältigung einer globalen Finanzkrise durch die Nationalisierung von Bankschulden zu Lasten der Bevölkerung in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, hat das Schutzversprechen Europas gegenüber der Globalisierung untergraben – mit durchaus gegensätzlichen Antworten. Während in Spanien, Portugal und Griechenland eher linke Bewegungen gestärkt wurden, wuchsen im Norden und Osten, aber auch in Italien nationalistische, ja offen rechtsradikale nationalistische Bewegungen.
  4. Das Scheitern des Neoliberalismus in der Finanzkrise wurde zur Linken und bei Grüns Ende des letzten Jahrzehnts voreilig bejubelt. Tatsächlich aber rutschte Europa mehrheitlich nach rechts. Das Scheitern des Neoliberalismus war nicht Auftakt für einen sozial-ökologischen Aufbruch, sondern der Geburtshelfer für einen neu erstarkten Nationalismus. Neu ersstarkt – nicht neu. Tatsächlich wiederholt sich vieles von dem, was Europa nach der Weltwirtschaftskrise in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts heimsuchte. Es stinkt nach
  5. Das europäische Narrativ dieses Nationalismus ist die Migration. Migration als Drohung mit Überfremdung. Migration aber auch als Begriff, weil dieser die Ursachen für Flucht ausblenden hilft. So richtig es ist, zwischen Flucht und Migration zu unterscheiden, so beharrlich sollten Grüne von Flucht, ihren Ursachen wie ihrer realen Dimension Es gilt, was der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, Fillippo Grandi gesagt hat: „Es gibt aktuell keine Flüchtlingskrise in Deutschland oder Europa. Die wirklichen Flüchtlingskrisen waren und sind in Afrika, im Nahen Osten, in Asien.“
  6. Fakt ist: die zynische Abschottung Europas funktioniert – in der Ägäis und jetzt auch vor Libyen mit seinen zur Küstenwache verklärten Milizen, die Menschen in die Folterlager zurückbringen. Dass in diesem Jahr schon über 2000 Menschen im Mittelmeer oder schon in Afrika auf dem Weg nach Italien elendig verreckt sind, verkommt zur Randnotiz.
  7. Es geht um die Verbreitung eines Narrativs, das dem Nationalen wieder zur Geltung verhilft. Dies ist nicht primär das Werk der AfD. Sie profitiert davon, auch wenn sie nichts macht. Sie profitiert, wenn die SPD Rumänen zwar die gleichen Steuern und Sozialabgaben zahlen lassen will, ihnen aber die steuerliche Leistung Kindergeld vorenthalten möchte. Aber die SPD tappst da in ihrer Ratlosigkeit nur mit in einer Kampagne, die von anderen gesteuert wird.
  8. Jede Ausgabe von Julian Reichelts Bild erzeugt über die sich immer und immer wiederholenden Geschichten über Abschiebungen, Gefährder einer Atmosphäre der Dringlichkeit politischen Handelns, die mit der Realität wenig zu tun hat. Sie liefert den Stoff für rechte Trolle, Stammtisch-Verschwörer und AfD-Kundgebungen.
  9. Das Ziel dieser Erzählung ist nicht die Landtagswahl in Bayern. Es erschöpft sich nicht darin, dass Merkel weg muss. Es geht um die Überwindung eines strategischen Dilemmas für die Rechte. Sie kann heute nur regieren in Koalitionen der Mitte – obwohl es eine rechte Mehrheit in der Bevölkerung gibt. Dafür wird nun der Charakter der Union als einer proeuropäischen Volkspartei zur Disposition gestellt.
  10. Wenn Dobrindt von einer „konservativen Revolution“ sprach und dabei bewusst den Begriff eines der Vordenker der alten Rechten, Armin Mohler, verwandte, geht es ihm nicht nur um Rückabwicklung der 68er. Es geht um die Rückabwicklung Helmut Kohls. Sein europäisches Erbe bedeutet: es ist im deutschen Interesse, dass sein Schicksal untrennbar mit Europa verknüpft ist. Und dass dafür Europa vertieft werden muss. Dieses Erbe soll abgewickelt werden.
  11. In dieser Situation müssen Grüne für eine progressive europäische Politik streiten.
  12. Europäisch ist mehr als Macron zu loben. Bei aller pro-europäischen Initiative holt er in Frankreich das nach, was in Großbritannien New Labour und in Deutschland Agenda 2010 hieß. Eine Modernisierung aber, die nicht den Zusammenhalt in der Gesellschaft stärkt, nutzt der Erzählung der Nationalisten von der Geborgenheit der eigenen Nation. Deshalb ist ein sichtbares Ende der Austerität, das Beharren auf einem Green New Deal essentiell, will man das weitere Anwachsen des Nationalismus bremsen. Die Idee von Grünen als Teil von en marche ist damit unvereinbar.
  13. Und progressiv ist man schon gar nicht, wenn man den Sozialstaat nur für Deutsche fordert, wie es die neue Sammlungsbewegung Aufstehen Wer sich nach dem Motto Deutsche zuerst, dann niemand gegen ein Einwanderungsgesetz für Fachkräfte wendet und dabei die gleiche Rhetorik wie Gauland verwendet und Flüchtlinge gegen Hartz IV-Empfänger*innen in Stellung bringt, wer vom Asylrecht als „Gastrecht“ spricht, der ist bestimmt vieles, aber nicht links.
  14. Es gibt für eine progressive europäische Politik Bündnispartner. Einige haben wir Grüne die letzten Jahre durch Nichtbeachtung gestraft. Manche haben sich dann auch von uns fort entwickelt. Aber die wenigen linken Regierungen werden von Parteien und Bewegungen getragen, in denen viele für ein soziales, ökologisches und demokratisches Europa Auf sie heißt es wieder zuzugehen.
  15. Wir leben in einer multipolaren Welt. Die Identität von Ideen, Interessen und Institutionen zwischen Europa und den USA existiert sichtbar nicht mehr. Wer Globalisierung gestalten will, braucht Europa als handlungsfähigen Akteur. Das gilt nicht nur für die Flüchtlingspolitik. Deshalb müssen wir für eine progressive europäische Politik

Verwandte Artikel

Kommentar verfassen

Artikel kommentieren


* Pflichtfeld